Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Kontroversen-Kino"

Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

26. 12. 2013 - 13:02

Kontroversen-Kino

Persönliche Notizen zum heurigen Filmjahr, in dem so wenig Einigkeit wie nie zuvor herrschte.

Rewind 20013

Der FM4 Jahresrückblick


Wenn Regisseur Jim Jarmusch in einem aktuellen Interview gesteht, dass er kaum noch ins Kino geht, steht er damit nicht alleine da. Auch andere Filmfreaks besuchten heuer den dunklen Vorführsaal längst nicht mehr regelmäßig.

Da gibt es welche, die haben das Wohnzimmer zum Heimkino aufgerüstet, andere streamen im Bett liegend auf kleinen Laptopbildschirmen oder starren in der Küche auf ihr Tablet. Bilderströme werden unterbrochen, in Abschnitten genossen, Seherlebnisse fragmentierter, vor allem aber isolierter.

Auch inhaltlich und formal findet sich kein gemeinsamer Nenner mehr. Harmoniesüchtige Menschen wie meine Wenigkeit mögen es bedauern, aber: Konsenskino, das war einmal, Baby. Der in den letzten Jahren ziemlich singuläre Moment, als plötzlich alle mit Stuntdriver Ryan Gosling durch die Nacht rauschen wollten, ist Geschichte.

Wenn sich 2013 ein kleines Grüppchen auf einen Film einigen konnte, folgten prompt die erbitterten Gegenstimmen. Schon lange nicht mehr wurde in sozialen Netzwerken, Blogs, Magazinen und auch leibhaftig in Kinofoyers und Bars derartig über Filme gestritten. Oder zumindest gegensätzlich diskutiert.

Für viele kristallisierte sich etwa Alfonso Cuarons Weltall-Drama "Gravity" gleich nach seinem Start als Film des Jahres heraus, einer echten Schwerelosigkeitserfahrung gleich, von der sie nicht genug kriegen konnten. Andere fühlten sich nach einem hypnotisierenden Anfang aber von der zweiten Hälfte schwer unterfordert, waren von Sandra Bullocks Figur genervt, warteten vergeblich drauf, das noch mehr passiert.

warner

"Gravity"

Teufel der Erwartungshaltung

Erleuchtungen (mit österreichischem Starttermin)
* De Rouille Et D'os (Der Geschmack Von Rost Und Knochen)
* Only Lovers Left Alive
* Silver Linings Playbook
* The Counselor
* La vie d’Adèle (Blau ist eine warme Farbe)
* Only God Forgives
* Prisoners
* Inside Llewyn Davis
* You're Next
* Rush
* The Master
* Before Midnight
* La Grande Bellezza (Die Große Schönheit)
* To The Wonder
* Zero Dark Thirty
* Sightseers
* Man Of Steel
* Stoker
* This is 40 (Immer Ärger mit 40)
* The Broken Circle Breakdown

Den einen passierte zu wenig, hörte man in Streitgesprächen, den anderen zuviel: Eine wachsende Anzahl von Filmliebhabern fühlte sich von der Diktatur der Story, der Psychologie und der Charakterentwicklung bevormundet.

Diese Fraktion, die den puren Rausch der Bilder sucht, den audiovisuellen Kick und flirrende Sinneserfahrungen, kürte bereits im Frühling ihren heurigen Lieblingsfilm. Harmony Korine nähert sich in "Spring Breakers" der Party-Odysee dreier junger Mädchen auf halluzinatorische Weise, setzt auf (Alb-)Traumszenarien statt Plot, verschafft nebenbei der Hannah-Montana-Generation ebenso Credibility wie dem Dubstep-Proll Skrillex.

Gerade weil ich für meinen Teil den neuen Zugang zum alten Medium verstehe, beschäftigte es mich eine ganze Weile, warum mich dieser Trip ins verschwitzte Florida ein wenig kaltgelassen hat. Vielleicht war es das Bombardement der begeisterten Stimmen, der Teufel der Erwartungshaltung, der auf Exzesse und Verausgabung lauerte, auf einen postpubertären "Hangover" an der Tabu-Grenze, und nichts von diesen Versprechungen in "Spring Breakers" vorgefunden hat.

Mädchen werden verhaftet

Constantin

"Spring Breakers"

Rache und Abenteuerlust

Bei einem anderem Film, den der scharfe Wind der kontroversen Meinungen ebenso umwehte, konnte ich dafür begeistert gegen die Übermacht der Hater anjubeln. Mit dem Zeitlupen-Delirium "Only God Forgives" verspielte sich Nicolas Winding Refn den gesamten Mainstream-Bonus von "Drive" und kehrte zurück zu "Valhalla Rising" und "Bronson": in das verstörende Reich der gewalttätigen, sexuell frustrierten und neurotischen Übermänner. Dabei ist das thailändische Racheepos hinter seiner ultrastilisierten Oberfläche so gar nicht gehaltlos, wie die Kritik geiferte, sondern aufgeladen mit Subtexten, Symbolik und Mythen.

Kaum Freunde fand auch eine der teuersten Hollywood-Produktionen in diesem Jahr, der Western-Ausflug von Regisseur Gore Verbinski und seinem Schauspielspezi Johnny Depp. "The Lone Ranger" führte die Liste der Flopps im Summer of Doom an, in dem ein Blockbuster-Schlachtschiff nach dem anderen abstürzte. Dabei birgt das Comicbook-meets-Cowboy-Spektakel einiges an Extravaganzen und strotzt vor einer fast infantilen Lust am Abenteuer, von der die Piraten-Filme des selben Teams nur träumen konnten.

Auf Quentin Tarantinos Ausflug in das Kuhbuben-Terrain konnten sich dagegen alle einigen. Stimmt natürlich nicht, denn auch "Django Unchained" wurde gelobt wie zerrissen. Mich persönlich ließ die Sklaverei-Aufarbeitung im Gewand des Meta-Italo-Westerns nach dem furiosen Doppelschlag der Meisterwerke "Kill Bill" und "Inglorious Basterds" leicht enttäuscht zurück. Allerdings ist Tarantinos Bemühung, all die schundigen Zitate mit politischer Wut aufzuladen genauso zu würdigen wie sein ewiges Gespür für geniale Soundtrack-Zusammenstellungen.

Christoph Waltz und Jamie Foxx in "Django Unchained"

sony

"Django Unchained"

Soundtrack of my Life

Schönheiten (in beliebiger Reihenfolge)
* The World's End
* This Is The End (Das Ist Das Ende)
* Captain Phillips
* Blutgletscher
* Gravity
* Spring Breakers
* Paradies: Hoffnung
* The Place Beyond The Pines
* Shut Up & Play The Hits
* Apres Mai (Die Wilde Zeit)
* Django Unchained
* Blue Jasmine
* Don Jon
* Lone Ranger
* Pacific Rim
* Jeune & Jolie (Jung & Schön)
* Evil Dead
* The Bling Ring
* Room 237
* Leviathan

Überhaupt, Filmmusik anno 2013! Was für großartiges Zeug ist da kompiliert, speziell ausgesucht und komponiert worden. Während strenge österreichische Regisseure wie Götz Spielmann trotz eines völligen Verzichts auf einen Score punkten konnten ("Oktober/November" gehört zu den stillen Faszinationen des Jahres), tobten sich diverse Brachialfilmemacher musikalisch aus, bis die Dolby-Surround-Anlagen rauchten.

Kein Album irgendeiner Band habe ich für meinen Teil beispielsweise heuer so oft gehört wie den Soundtrack zu "Man of Steel". Hans Zimmers hymnischer Bombastmix aus Pseudoklassik und Electro-Drones ist bei Zack Snyders Superman-Wiedererweckung die halbe Miete. Aber auch auf der Bildebene rockte der religiös verbrämte Comickino-Streifen ordentlich.

Wirkliche Substanz sucht man dagegen ohnehin im gesamten Blockbuster-Jahrgang vergeblich. Auch Guillermo Del Toros heißerwartete Kaiju-Eiga-Hommage "Pacific Rim", ein weiterer Film, wo es in meinem Bekanntenkreis begeisterte Fans wie erbitterte Feinde gibt, hatte diesbezüglich nicht viel zu bieten. Zwar pochte hinter den gigantomischen CGI-Schauwerten glücklicherweise ein putzig infantiler Charme, der an altmodische Godzilla-Streifen erinnerte. Aber die erwarteten visionären Qualitäten blieb der gute Guillermo schuldig.

Monster

Warner

"Pacific Rim"

Survival of the filmiest

Was "Man of Steel" und "Pacific Rim" aber auf blendende Weise mit "Gravity" verbunden hat: Wir kleinen geschlauchten Arbeiterbienen und Drohnen des Alltags konnten von den Helden dieser Filme lernen, wie man auch in enervierendsten Situationen durchhält. Weiterkämpft. Überlebt.

Auch der äußerst lässige erste österreichische Alpinschocker "Blutgletscher" bietet diesbezüglich einige Lektionen. Jungregisseur Marvin Kren schildert klaustrophobisch und mit Verbeugungen vor dem Old-School-Horror von John Carpenter & Co., wie sich eine Forschergruppe in den Bergen gegen tollwütige Tiermutationen verteidigt.

In dem für mich unerwartetsten Triumph dieses Kinojahres, der Rennfahrer-Saga "Rush" von Routinier Ron Howard, gelingt es Daniel Brühl den jungen Niki Lauda so facettenreich und humorvoll zu porträtieren, dass sein eisernes Durchbeißertum auch Formel-1-Agnostiker tief berührt. Gleich direkt in die Magengrube zielt wieder einmal Wackelkamera-König Paul Greengrass mit seinem Survival-Drama "Captain Phillips", ein virtuoses Stück Reality-Nervenkitzel, das notorischen Tom-Hanks-Skeptikern wie dir und mir keine Fluchtmöglichkeit lässt.

Erleuchtungen abseits von Startterminen:
* The Act Of Killing
* Mud
* Joe
* Ain't Them Bodies Saints
* Cheap Thrills
* The ABC’s Of Death
* The Lords Of Salem
* Fraktus
* Alan Partridge: Alpha Papa
* New World

Rush

constantin film

"Rush"

Harte Mädchen und störrische Buben

Mein allerliebster Durchhaltefilm zeigt aber eine junge Frau, die in einem Haus voller Killer auf sich alleine gestellt ist. Die wunderbare Sharni Vinson mutiert im Laufe von Adam Wingards Horror-Glanztat "You’re Next" zu einer Ausnahmefigur, die nicht nur fiese Eindringlinge mutig abserviert, sondern als Arschtritt gegen alle Frauenfolterungen im Genrekino der letzten Dekade zur rächenden Ikone wird. Fazit: Bestes Gänsehaut-Werk des Jahres, produziert von einem US-Talenteteam, dem wir auch supere Schocker ohne regulären Kinostart verdanken, von "V/H/S 2" bis "Cheap Thrills".

Um das Überleben kämpften auch zwei Comedy-Einsatzkommandos auf beiden Seiten des Atlantik. In "This Is The End" setzt die Apokalypse während einer flotten Dinerparty im Haus von James Franco ein, die überlebenden Komikerschnösel verstricken sich in diverse Schenkelklopf-Szenarien und unterschreiten verlässlich Gürtellinien. Herzenswärmer geht es beim Krieg gegen Außerirdische und letzte Biervorräte in einer britischen Kleinstadt zu. "The World's End" versammelt Englands kauzigste Blödel-Akteure rund um Simon Pegg und Nick Frost und beschließt würdevoll die Cornetto-Trilogie.

Eine ganz andere Art des Niemals-Aufgeben-Kinos kommt naturgemäß von den Brüdern Joel und Ethan Coen. "Inside Llewyn Davis", ihr bester Film seit langer Zeit, folgt einem störrischen Außerseiter-Musikanten durch die New Yorker Folkszene der frühen Sixties. Unbeirrbar geht die bärtige Titelfigur ihren Weg, von Minibühne zu Gästecouch, von einem Misserfolg zu nächsten, der Bezug zur Indielandschaft der Gegenwart ist schmerzhaft offensichtlich.

Schönheiten abseits von Startterminen:
* Prince Avalanche
* The Canyons
* My Amityville Horror
* Here Comes The Devil
* V/H/S 2
* The Iceman
* Aftershock
* Byzanthium
* Upstream Color
* Escape from Tomorrow

Inside Llewyn Davis

viennale

"Inside Llewyn Davis"

Außenseiter aller Arten

Mit Spinnern, Freaks und Trotzköpfen abzuhängen, es gibt wenig bessere Gründe ins Kino zu gehen. In "Sightseers" reisen wir mit einem schrulligen Durchschnittspärchen durch England, bewundern Sehenswürdigkeiten, besuchen Junk-Food-Lokale und sehen Tina und Chris beim Morden zu. Der britische Ausnahmeregisseur Ben Wheatley inszeniert den ganz normalen Wahnsinn als Mischung aus Monty Python und Serienkiller-Drama, ein Film zum Fürchten komisch.

Entschieden extravaganter wirkt das dysfunktionale Personal im Hollywood-Debüt des koreanischen Regiestars Park Chan-Wook. "Stoker" hätte mit seinem Porträt einer eleganten wie gefährlichen Patchwork-Familie das Zeug zum echten Meisterwerk gehabt, wenigstens zu einem Stück skurriler Schönheit hat es aber gereicht.

Ganz in unglaublichen Bildern baden sich auch zwei andere Außenseiter-Reflexionen. Paul Thomas Anderson, dessen Filme immer wie schimmernde Geschenke an das Kino anmuten, legte mit "The Master" sein hermetischstes Werk vor, dass erst heuer bei uns gestartet ist. Eine mysteriöse Meditation über Gruppenzugehörigkeit und Einzelgängertum, Ausbruch und Kontrolle, das Archaische und das Disziplinierte. Nicht weniger umwerfend visuell ist Paolo Sorrentinos "La Grande Bellezza", eine elegische Ode an die Vergänglichkeit, in der ein alter Bohemien bereits ein wenig lebensmüde durch das nächtliche Rom driftet.

Leider Enttäuschungen:
* The Hunger Games: Catching Fire (Die Tribute von Panem 2)
* Frances Ha
* The Heat (Taffe Mädels)
* Venus in Furs (Venus im Pelz)
* Elysium
* A Field in England
* L'écume des jours (Der Schaum der Tage)
* Confession of a Child of the Century
* Side Effects
* Oblivion
* Jack the Giant Slayer
* Identity Thief (Voll abgezockt)
* Bullet To The Head
* A Good Day To Die Hard
* Paradies: Glaube
* Mama
* Star Trek: Into Darkness
* The Last Stand
* The Hobbit: Desolation of Smaug
* Escape Plan

La Grande Belezza

Filmladen

"La Grande Bellezza - Die große Schönheit"

In dunklen Kellern

Apropos Außenseiter: Fast aus dem Nichts kam ein Film, der die sozialen Verhältnisse in einer amerikanischen Kleinstadt, den Hass der braven Bürger auf vereinsamte Sonderlinge, in der Verpackung eines beklemmenden Thrillers präsentierte. "Prisoners" hieß dieser schwer zu schluckende Streifen, der dank Starbesetzung auch das breitere Publikum mitgerissen hat. Regisseur Denis Villeneuve bewies auch, dass die Abwanderung von engagierten Filmemachern nach Hollywood keinen Ausverkauf darstellen muss, sondern eine Belebung des Kinos.

Während in "Prisoners" in dunklen Kellern Kinder verschwinden, was bestürzenderweise ein universelles Thema ist, behandelt Kathryn Bigelow in "Zero Dark Thirty" höchst amerikanische Traumata. Auch dieser Film, im Vorjahr gefeiert, heuer erst in heimischen Kinos gestartet, kreist um Folterungen in abgeschirmten Verließen. Fernab von billigen Propagandavorwürfen gelingt der Regisseurin mit ihrer Schilderung der Jagd nach Osama Bin Laden ein vor Ambivalenz strotzendes Meisterwerk. Eine Studie über die trostlose Banalität des Bösen, die gefeierte TV-Serien wie "Homeland" als reißerische Unterhaltung bloßstellt.

Einem anderen Film, der tief in menschliche Abgründe hinabtaucht, der dabei aber statt purer Tristesse auf gelackte Bilder und zynische Pulp-Klischees setzt, prallte bloß Hass und Verachtung entgegen. "The Counselor", die Zusammenarbeit von Ridley Scott und Jahrhundertautor Cormac McCarthy, wäre wohl der negative Konsensstreifen 2013. Aber natürlich lässt das die kleine Fangemeinde, der ich mich glühend anschließe, nicht gelten.

The Counselor

centfox

"The Counselor"

Jung, schön und sexsüchtig

Totale Niederlagen:
* Parental Guidance
* Olympus Has Fallen
* Gangster Squad
* Red 2
* The Hangover Part III
* Feuchtgebiete
* Insidious 2
* Filth
* Carrie
* Snitch

Für hitzige Gespräche sorgten auch jene filmische Arbeiten, die sich unter die Gürtellinie begaben, den Sex aus den strengen YouPorn-Kammern rausholten, ihn analysierten, aber auch verschwitzt feierten.

Wobei Francois Ozon in "Jeune & Jolie" bewusst nichts davon macht. Sein Porträt einer jungen Schönheit aus gutem Hause, die sich freiwillig für ein Taschengeld prostituiert, bleibt in einem konstanten Schwebezustand, formal und moralisch. Wer Kino immer auch schon als einen Ort verehrt, in dem die sozialen Gebote außer Kraft gesetzt werden, war fasziniert, Feministinnen reagierten erzürnt.

Vollgeladen mit humanistischen Botschaften hat dagegen der fesche Joseph Gordon-Levitt sein Regiedebüt "Don Jon". Glücklicherweise lebt die Story eines auftrainierten Gegenwartscasanovas, der via Internetpornos viel mehr Erfüllung findet als bei echten Frauen, zu einem Gutteil von einem bissigen Humor. Und von der köstlichen Chemie zwischen Gordon-Levitt und Scarlett Johannsen als Anti-Pärchen von nebenan.

Don Jon

lunafilm

"Don Jon"

Die Liebe als Kampfzone

Wirklich befreit hat den Sex auf der Leinwand nur ein Film in diesem Jahr: Die Rede ist natürlich von "La vie d’Adèle". Die Kamera klebt eben nicht nur in den Bettszenen hautnah und überlang an den beiden lesbischen Protagonistinnen, Regisseur Abdelatif Kechiche widmet sich genauso ausführlich dem Reden, Essen und schwierigem Alltag. Hier blitzt sie, rhythmisch und bildlich greifbar, tatsächlich auf, die Filmkunst der Zukunft, die neue Wege geht.

Den Irrwegen, auf die sich unzählige Liebespaare begeben, entgehen Adèle und Emma aber genauso wenig wie Céline und Jesse. Richard Linklater führt in "Before Midnight" ebenso sprachlastig wie in seinen vorigen Werken mit July Delpy und Ethan Hawke deren romantische Slacker-Affaire zu einem heftigen Abschluss. In Sachen bissiger Wortduelle und emotionaler Ernüchterung dicht dran: Judd Apatows RomCom-Ehehölle "This is 40", der notwendige Fremdschäm-Höhepunkt des Kinojahres.

Terrence Malick dagegen, der alte Mystiker des Autorenkinos, kommt zwar zu ähnlich traurigen Befunden in "To The Wonder". Die gänzliche Auflösung der gängigen Erzählform trieb aber auch noch die wenigen Besucher aus dem Kino und ließ die Kritiker geifern. Dabei ist das Medium Film heuer selten der Poesie und der Philosophie näher gekommen wie in diesem wundervoll gescheiterten Werk über das Scheitern.

To the Wonder

constantin film

"To The Wonder"

Tanz auf den Ruinen

Liebespaare bei der Trennung zu zeigen, Frauen und Männer in ihrer Selbstzerfleischung vorzuführen, das Böse zu definieren und Untergänge und Apokalypsen zu zelebrieren, all das sind klarerweise Kernaufgaben von Regisseuren. Manchmal, wenn ich müde in eine morgendliche Pressevorführung taumle, sehne ich mich aber nach Hoffnungsschimmern und Utopien. Nicht den politischen, für die auch im Kino kaum Platz mehr ist. Sondern den zwischenmenschlichen.

Wobei das herrliche Pärchen in Jim Jarmuschs "Only Lovers Left Alive" ja genau genommen eher zur Spezies der Untoten zählt. Aber wie Tom Hiddleston und Tilda Swinton hier gemeinsam und getrennt die Jahrhunderte überdauern, sich an Blutkonserven berauschen, Lyrik, Klassik und Rock’n’Roll diskutieren und nackt in edlem Leintuch kuscheln, das ist die schönste Beziehungsfantasie seit Ewigkeiten.

In "Silver Linings Playbook", der bereits im Jänner angelaufen und seitdem keinen Moment aus meinen Bewusstsein verschwunden ist, erkämpfen sich Bradley Cooper und Jennifer Lawrence ihr Haucherl Idylle hart. Wie die beiden aber über leere Medikamente-Schachteln stolpern, bis sich ihr Herumschwanken in einen Tanz verwandelt und sich das Fred-Astaire-Hollywood mit der Psychopharmaka-Gegenwart verbindet, das ist der Urstoff, aus dem die Kinoträume sind.

Auch schon am Jahresanfang gestartet ist ein weiteres Gänsehaut-Epos des unglaublichen Jacques Audiard. Der französische Meisterregisseur reißt in "De Rouille Et D'os" Marion Cotillard und Matthias Schoenaerts auseinander, malträtiert ihre Körper, lässt sie Rost und Knochen und Salzwasser schmecken, bis sich eine Annäherung abzeichnet.

Natürlich noch so ein Kontroversenfilm, der mit seinem ungenierten Mix aus sozialen Diskursen und persönlicher Emphase, Faustwatschen und Zärtlichkeiten, Grauen und Kitsch feindselige Reaktionen provoziert. Wer das Kino aber auch als einen Ort der hemmungslosen Sentimentalität begreift und als Kathedrale der Katharsis, kann diese Symphonie aus Bildern, Tönen, Fleisch und Blut nur bejubeln.

Der Geschmack von Rost und Knochen

Polyfilm

"De Rouille Et D'os - Der Geschmack von Rost und Knochen"