Erstellt am: 5. 6. 2013 - 15:15 Uhr
Utopie und Ernüchterung
Wahrhaftig ist ein schwieriger Begriff. Wenn ihn hochseriöse Cineasten in den Mund nehmen, um damit die wahre Kinokunst von den Niederungen des Cineplex-Entertainments abzugrenzen, wird es rasch fragwürdig. Oder auch schmalztriefend.
Dennoch ist mir kein anderes Wort schneller in den Sinn gekommen, als ich nach den Frühsiebziger-Stimmungsbildern von „Après mai“ in die viel zu kühle Luft des Wiener Mai 2013 taumelte. Ob dem französischen Regisseur Olivier Assayas der bisher beste Film zur jugendlichen Zerrissenheit nach dem Abebben der 68er-Revolutionswellen gelungen ist, darüber lässt sich diskutieren. Aber wahrscheinlich der Wahrhaftigste.
„Après mai“ ist die absolute Antithese zu zeitgenössischen Kostümierungsschinken, in denen die Darsteller wie frisch aus dem Secondhand-Laden wirken, wo ständig die Greatest-Hits der dargestellten Epoche aus den Boxen knallen und klischeegetränkte Zeitgeist-Sätze fallen. Olivier Assayas erweckt den Geist einer historisch gerne unterschlagenen Ära so authentisch wieder, dass man ihn förmlich spüren und riechen kann.
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Nachgesang auf eine Generation
Wobei, authentisch, dass ist ja wieder so ein grob missbrauchtes Schlagwort. Gerade die formal biedersten und inhaltlich bildungsbürgerlichsten Aufarbeitungen der linken Studentenrevolte – ich sage jetzt nur „Der Baader Meinhof Komplex“ – rühmen sich diesbezüglich sehr wegen ihrer Fakten- und Detailtreue. Weshalb man, wenn es um die damalige Tristesse, das Scheitern und die militante Gewalt geht, immer eher an legendäre Klassiker wie „Zabriskie Point“ denkt, in denen Realität zu Gunsten explodierender psychedelischer Visionen bewusst vernachlässigt wird.
Olivier Assayas, einer jener Autorenfilmer, die mit dem Alter spannender statt angepasster werden, hat mit dem fiebrigen Terroristen-Epos „Carlos“ bereits selber einen Streifen gedreht, in dem sich Wirklichkeit und Wahn mit einem bewusst gegensätzlich angelegtem Soundtrack vermischen. In „Après mai“ legt er es nun, ganz genau, auf Authentizität und Wahrhaftigkeit an. Und schafft damit den überfälligen und ultimativen Nachgesang auf eine Generation zwischen den Stühlen.
„Après mai“ läuft bereits in den heimischen Kinos.
„Something in the Air“: Der internationale Verleihtitel trifft den Ansatz viel mehr als „Die wilde Zeit“, wie der Film bei uns heißt. Denn eigentlich ist die wirklich wilde Zeit der Pariser Straßenschlachten anno 1968 schon vorbei, als die Handlung einsetzt. Wir folgen dem 16jährigen Gilles und seinen Gymnasiumsfreunden durch die Jahre danach. Die großen Unruhen sind abgeflaut, das Gefühl, die Welt verändern zu können, liegt aber noch immer in der von süßlichem Rauch geschwängerten Wohngemeinschafts-Luft.
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Love is in the Air
„Après mai“ verzichtet auf festgezurrte Handlungskorsette und die wohlbekannten dramaturgischen Bögen des Coming-Of-Age-Cinemas. Die großartige Kamera von Eric Gautier beobachtet die jugendlichen Laiendarsteller einfach in einem Alltag der aus mühsamen Gruppendiskussionen, Protestversuchen, sexuellem Erwachen und Auseinandersetzungen mit Kunst besteht, unterlegt von Songs von Syd Barrett oder Robert Wyatt.
Bis es zu vereinzelten gewalttätigen politischen Aktionen kommt, passiert nichts besonders in diesem Film. Und dennoch fühlten sich wohl nicht nur die jungen Darsteller wie in einem Science-Fiction-Streifen. Ohne Zeigefinger oder Arroganz gegenüber dem Heute führt Assayas ein sehnsuchtsvolles Jungsein lange vor dem Internet und dem Sieg des Raubtierkapitalismus vor. Gleichzeitig erzählt er von der Ernüchterung, der Ermüdung und dem Scheitern von sozialen Utopien, die in der Gegenwart bei vielen höchstens ein Schulterzucken hervorrufen.
Die Liebe, sie weckt bei den Protagonisten von „Après mai“ noch jede Menge Skepis. Zu sehr schwirren linksradikale Gedanken von bürgerlichen Pärchenlügen in ihren Köpfen herum. Völlig hemmungslos der Liebe verschrieben hat sich in seinem neuesten Werk dagegen ein anderer Filmemacher, der zu den sagenumwobensten Figuren des zeitgenössischen Kinos gehört. Terrence Malick, der in seinem letzten Meisterwerk „The Tree Of Life“ über den Sinn der Existenz und den Ursprung des Universums reflektierte, wagt in „To The Wonder“ einen Gegenentwurf zum verlogenem RomCom-Mainstream.
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Idylle und Verdunkelung
Wenn „Après mai“ schon auf konventionelle Strukturen verzichtet, dann zieht „To The Wonder“ diesbezüglich einen echten Schlussstrich. Es gibt keine Story im herkömmlichen Sinn mehr, kaum Dialoge, keine Psychologie, keine Katharsis. Terrence Malick knüpft dort an, wo Olivier Assayas aufhört, sein Film fließt dahin, bündelt sich zu einem Bilderstrom.
Im Mittelpunkt der collagenhaften Szenenfolgen stehen der Amerikaner Neil und die in Paris lebende Russin Marina. Die Stars Ben Affleck und Olga Kurylenko verschwinden ganz hinter diesen Figuren, die sich bei einer Reise durch Frankreich ineinander verknallen. So intensiv sind die Gefühle, dass die alleinerziehende Mutter dem Landvermesser ins provinzielle Oklahoma folgt. In der amerikanische Einöde passieren dann aber die ersten Einbrüche in die Idylle.
"To The Wonder" ist ebenfalls schon angelaufen.
Marina fühlt sich inmitten der weiten Landschaft und der künstlichen Suburbia-Architektur entzweit von ihrem Liebhaber, der ganz in seinem Beruf aufgeht. Malick zeigt, in den stärksten Szenen des Films, die Entfremdung der jungen Frau bloß mit Blicken, Gesten, tänzerischen Bewegungen. Er braucht keine komplizierten Sätze, abgesehen von sporadischen Offmonologen, um eine Verdunkelung der Beziehung anzudeuten, wie sie Millionen Paare auf der ganzen Welt schmerzhaft kennen.
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Magische Andeutungen und unerklärliche Momente
Man kann natürlich, wie es die Mehrzahl der Kritiker taten, sowohl die zerrissene Machart dieses Films als auch die ätherischen Charaktere belächeln oder gar verdammen. Dass Terrence Malick erneut in sonnendurchfluteten Landschaften schwelgt, in Grashalmen, die sich im Wind wiegen, ließ zornige Stimmen obendrein von Postkartenkitsch sprechen.
Wenn sich zu diesen Naturaufnahmen noch ein vereinsamter Pfarrer (Javier Bardem) gesellt, der in der Kleinstadt mit seinem Glauben ringt, schrillen bei vielen dann die letzten Alarmglocken. Gelingt es einem aber, sich von all dem Ballast an vorgefertigten Standpunkten und Meinungen zu lösen, die das gängige Denken verkleben, begibt man sich auf eine Vorstufe zu Ideologien und Pseudoweisheiten, wird man von „To The Wonder“ belohnt. Vielleicht nicht so reichhaltig wie in „Badlands“ oder „Tree Of Life“, aber dennoch.
Terence Malick stellt Fragen zu Intimität, Nähe und Projektionen. Wie lassen sich Sicherheit und Ruhe mit glühender Obsession verbinden? Muss jede große Liebe unvermeidlich den selben abgekühlten Weg gehen? Ist es möglich, sich auch zu zwei Menschen (Rachel McAdams spielt Olga Kurylenkos Gegenpart) hingezogen zu fühlen? Auf Antworten wartet man in „To The Wonder“ vergeblich. Weit weg von den normierten Schemata moderner Liebesfilme geht es Terrence Malick um magische Andeutungen und unerklärliche Momente.
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Im (Griechen-)Land der Marathondialoge
Um das Wunder der Liebe kreist auch ein filmisches Experiment von Richard Linklater, das jetzt seinen vorläufigen Abschluss gefunden hat. In „Before Sunrise“ (1994) begegnen sich die Slackertouristen Celine (July Delpy) und Jesse (Ethan Hawke) in einem Zug nach Wien, verbringen eine gemeinsame Nacht in der Donaumetropole und gehen dann getrennte Wege. In „Before Sunset“ (2004) treffen sie neun Jahre später in Paris aufeinander, das Fieber entflammt erneut. „You will miss your flight“ meint Celine am Ende zu Jesse, „I know“ grinst der Jungautor betört.
Nun ist wieder beinahe eine Dekade vergangen, die Vorzeigeromantiker des Indiekinos haben sich in ein gesetteltes Bohemienpaar verwandelt, das mit seinen Zwillingsmädchen auf Griechenlandurlaub ist. „Before Midnight“ mag mit seinen statischen Einstellungen und Linklater-typischen Marathondialogen die diametrale Antithese zu den schwebenden Bewegungen von „To The Wonder“ sein. Und während Ben Affleck und Olga Kurylenko sich meist pathetisch anschweigen, reden Ethan Hawke und July Delpy in langen Sprachdurchfällen über jeden Mikroaspekt ihrer Beziehung.
"Before Midnight" startet am Freitag in österreichischen Kinos.
Retten können sie die Leidenschaft damit genauso wenig wie die Figuren in Terrence Malicks Drama. Trotz sommerlicher Temperaturen wird einem irgendwann kühl in diesem Film, der eisige Wind der Midlifecrisis, der Vernunft und des Pragmatismus weht über die griechische Ferieninsel. Der Traum vom gemeinsamen Glück droht für Jesse und Celine zu zerplatzen.
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Abseits der formalen Diktate
Wer bei den jungen Nachtschwärmern in „Before Sunrise“ noch eine verklärte Leichtfüßigkeit in der Figurenzeichnung schätzte, wird bei den Fortysomethings in Richard Linklaters neuem Film ernsthaft schwermütig werden. Keine Szene, in dem Drehbuch, das diesmal von Regisseur und Hauptdarstellern gemeinsam verfasst wurde, schielt auf billige Pointen, vor allem gegen Ende geht es in aller Strenge um den Kern von Beziehungen.
Diese Suche nach Authentizität und Wahrhaftigkeit - da sind wieder die Reizwörter vom Anfang – verbindet „Before Midnight“ trotz aller Gegensätze mit „To The Wonder“ und „Après mai“. Spötter aller Arten haben es leicht, über diese Streifen herzufallen, präsentieren sie sich doch frei von jenem zynischen Schutzmantel, der dieser Tage etliche Songs, Popliteraturschmöker und Filme umgibt.
Eine weitere Gemeinsamkeit: Richard Linklater ignoriert wie Olivier Assayas und Terrence Malick die formalen Diktate des Unterhaltungskinos. In seinem Fall heißt das eben gefühlt endlose Einstellungen ohne Schnitt, in den die Kamera die Figuren unauffällig bei ihrem Weg durch die griechische Abenddämmerung begleitet. Die drei Großmeister des zeitgenössischen Autorenkinos erzählen allesamt von politischen und privaten Illusionen, eine Utopie zerplatzt in ihren neuen Arbeiten aber nicht: Die des Kinos, das uns ganz unabgeklärt dem Leben und der Liebe näher bringt.
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Richard Linklater war in Wien, um seinen Film "Before Midnight" vorzustellen. Beinahe 20 Jahre ist es her, dass der Texaner den ersten Teil seines Kino-Beziehungsmarathons "Before Sunrise" hier gedreht hat. FM4 Filmredakteurin Petra Erdmann hat Richard Linklater zum Interview getroffen und wollte wissen, warum ihm gerade Wien als Begegnungsort für Celine und Jesse in den Sinn gekommen ist.
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