Erstellt am: 17. 11. 2013 - 20:42 Uhr
All that Sex
Fast jeder tut es derzeit: Die Rede ist von zeitgenössischen Filmemachern, die sich Geschlechterdifferenzen und dem Thema Sexualität nähern. Auf künstlerische Weise wohlgemerkt.
Zwar ist der heftige Flirt zwischen Arthouse-Anspruch und Explizit-Erotik längst nichts Neues mehr. Aber nachdem die Mini-Skandälchen rund um körperlich offensives Autorenkino wie "Baise-Moi", "The Brown Bunny" oder "9 Songs" bereits Geschichte sind, kommt gerade eine weitere Welle von Exkursionen unter die Gürtellinie daher.
"Nymphomaniac" und "La vie d'Adèle" (Blau ist eine warme Farbe) heißen dabei die am heftigsten von Kontroversen begleiteten Filme. Bereits zu Weihnachten will Lars von Trier den ersteren Streifen, der um die sexuellen Lebenserfahrungen einer Frau kreist, in seinem Heimatland Dänemark uraufführen. Bisherige Ideen, die kursierten, von zwei Teilen und sowohl einer Hardcore- als auch Softcore-Variante, hat der Regiemonomane verworfen.
"He called me a couple of months ago and said: 'Stellan, I just want to book you for next summer, so don't take anything else. I'm going to make a porno film and I want you to play the male lead.' 'Yes of course, Lars,' I said. 'But you will not get to fuck in the film.' I said okay, he said, 'But you will show your dick at the end, and it will be very floppy.' 'Okay Lars, I will be there, if that's what you're doing.'"
(Stellan Skarsgard im Interview zu "Nymphomaniac")
"Nymphomaniac" wird als vierstündiges Momumentalepos präsentiert, unzensuriert, pornografisch. Wobei Stars wie Charlotte Gainsbourg, Stellan Skarsgard, Willem Dafoe oder Shia LaBeouf natürlich auf Genital-Doubles zurückgreifen. Ob Lars von Trier bei seinem gewagtesten Projekt wieder die Wucht früherer Meisterwerke erreicht oder die Bilder eher in ästhetisch-expliziten Posen erstarren, das werden wir hierzulande wohl erst im Frühjahr erfahren.
Zentropa Film
Sex ohne Selbstzweck
Bereits auf der Viennale aufgeführt, wo er vieles überstrahlte, wurde der Cannes-Siegesfilm "La vie d'Adèle", der noch Ende dieses Jahres regulär in heimischen Kinos anläuft.
Dem gebürtigen Tunesier Abdellatif Kechiche gelingt über eine Laufzeit von immerhin auch drei Stunden so etwas wie ein Meilenstein in Sachen Intimitäts-Darstellung. Die obsessive Liebesgeschichte zweier junger Frauen entfaltet sich dabei in überlangen Szenenfolgen, die mit konventionellem filmischen Timing brechen.
"Dieses Mal wollte ich von der Suche nach der sexuellen Orientierung und von Leidenschaft erzählen. Es sind zwar zwei Frauen im Zentrum des Films. Aber noch wichtiger als das Geschlecht war für mich die Frage, ob und wie sich zwei Menschen verlieben können, von denen der eine Teenager ist, während der andere schon im Leben angekommen ist."
(Abdellatif Kechiche im Gespräch mit "Die Welt")
Es ist vor allem diesem ungewöhnlichen Rhythmus des Films zu verdanken, der endlosen Abendessen, heftigen Streitereien oder eben ausgedehntem Sex den gleichen Platz einräumt, dass etwas Rares gelingt: Die tabubrecherischen Einstellungen fügen sich in den Gesamtkontext ein, ohne selbstzweckhaft zu wirken, sie erzählen mehr über Emotionen und Rauschzustände als bloß pornografische Knöpfe zu drücken.
Dass in den extrem hitzigen Diskussionen um "La vie d'Adèle" dennoch stets der Vorwurf des Voyeurismus laut wird, birgt eine bestimmte Absurdität. Denn zum einen klebt die Kamera eben bewusst in jeder Sekunde an den Schauspielerinnen, auch wenn diese Spaghetti kauen oder in die Morgensonne blinzeln. So hautnah, dass man sich tatsächlich öfter wie ein Eindringling in ein Jugendzimmer fühlt. Zum anderen gehört der Voyeurismus eben ganz grundsätzlich zum (Körper-Kino) und speist auch die Angst- und Schaulust von Horrorfilmen, Thrillern und Melodramen, da braucht man nicht herumheucheln.
Thimfilm
Utopie der analogen Sinnlichkeit
Was interessanterweise in den zahlreichen lobenden Besprechungen und auch scharfen Kritiken nie thematisiert wird, ist ein anderer Aspekt, der für Abdellatif Kechiche zentral sein dürfte. Die jungen Protagonistinnen und Protagonisten in "La vie d'Adèle" streifen zwar, ganz französelnd, immer wieder Philosophen und Maler in ihren Gesprächen, sie lesen Bücher oder unterrichten gar Sprache. Trotz der flirrenden Teenager-Atmosphäre und einem radikalen Realismus tauchen aber nie Handys in den drei Stunden auf, es werden keine hektischen SMS versendet, nicht mal Computer sind im Bild.
Regisseur Kechiche, Anfang Fünfzig, erschafft eine Adoleszenz-Utopie, die den Entfremdungen des digitalen Hier und Jetzt eine ganz bewusst analoge, organische, sinnlich-fleischliche Ebene entgegenstellt.
Wem das jetzt zu altherrenmäßig und naiv und weltfremd zugleich anmutet, sollte einmal aktuelle Interviews mit Joseph Gordon-Levitt studieren. Der 32-jährige US-Feschak, der seine Vielseitigkeit als Schauspieler in Hollywood-Reißern wie "The Dark Knight Rises" oder "Looper" bewiesen hat, kehrt jetzt als Regiedebütant zu seinen Indiewurzeln zurück. In "Don Jon" wimmelt es im Vergleich zu "La vie d'Adèle" nur so von Laptops und Smartphones, gleichzeitig stellt Gordon-Levitt seinen diesbezüglichen Kulturpessimissmus drastisch zur Schau.
lunafilm
Kopulations-Komplikationen
"Wir haben eine regelrechte Checkliste im Kopf, wie genau der andere sich verhalten soll oder was alles passieren muss. Diese Erwartungen erlernen wir von unseren Familien, unseren Freunden, manchmal über eine Religion und natürlich zu großen Teilen auch aus den Medien. Letzteres hat mich natürlich ganz speziell interessiert. Ich hab also gedacht, eine Geschichte über einen Typen, der zu viele Pornos konsumiert, und ein Mädchen, das zu viele Hollywood-Schnulzen sieht, wäre ein wirklich lustiger Ausgangspunkt.
(Joseph Gordon-Levitt im Gespräch mit "Skip")
"Don Jon's Addiction", wie der überdeutliche Arbeitstitel des Films lautete, schildert die Abenteuer eines modernen Don Juan. Joseph Gordon-Levitt, der auch das Drehbuch verfasste, spielt ein wenig comichaft überzeichnet, aber trotzdem voller realistischer Bodenhaftung, einen jungen Italoamerikaner, der einem durchstrukturierten Workingclass-Alltag folgt. Arbeiten, ins Fitnessstudio, bei den Eltern in Brooklyn Essen, samstags mit dem Kumpels in die Disco, dort Frauen abschleppen, in der Kirche später beichten.
Dazwischen, davor, danach: ausgedehnte Masturbationssessions vor dem Computer-Bildschirm. Echter Sex, den der durchtrainierte Aufreißertyp an den Wochenenden ausgiebig erlebt, ist für Jon stets mit Komplikationen verbunden, aber auch mit einer gewissen Unbefriedigtheit. Denn all die diversen Stellungen, die kleinen und größeren Obszönitäten, die er aus den Pornos kennt und schätzt, interessieren seine realen Bettpartnerinnen kaum.
Auch als Don Jon seine vermeintliche Traumfrau kennenlernt (ungewohnt komisch: Scarlett Johansson) ändert sich nichts an seiner Wichs-Routine. Denn die wohlerzogene Barbara sucht einen Traumprinzen aus ihren pinkfarbenen RomCom-Fantasien, während ihr neuer Freund an Blowjobs, Orgien und Exzesse denkt. Als er sich sogar nach einer Liebesnacht mit der Blondine heimlich an den Laptop setzt und seine favorisierten Pornoseiten aufsucht, kommt es zur Beziehungskatastrophe.
lunafilm
Oversexed & Underfucked
Dem Multitalent Joseph Gordon-Levitt gelingt mit "Don Jon" eine herrlich subversive Mogelpackung. Alles an dem Film, von den strahlenden Stars bis zur Werbekampagne ("Nimm dein Glück selbst in die Hand") deutet auf eine romantische Komödie hin. Dabei entpuppt sich das fröhliche Datingmovie aber als Gegenwartsreflexion mit Widerhaken.
Bewusst flappsig und flott inszeniert, um die Aufmerksamkeit des angepeilten Publikums auch zu halten, wagt sich der Film näher an die zwiespältige sexuelle Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts als schwülstige Arthouse-Pornos. Dass Gordon-Levitt eben keinen schüchternen Geek ins Zentrum stellt, der sich nicht aus seiner einsamen Onanier-Bude herauswagt, sondern sich selbst als kämpferischen, disziplinierten Schönling stilisiert, hebt den Film nochmal auf eine andere Ebene.
"Don Jon", das ist der mit befreienden Lachern gespickte Widerpart zu Steve McQueens quälender Sexsucht-Saga "Shame". Würden Außerirdische studieren wollen, was in den westlichen Betten (nicht) abgeht, beide Streifen würden zusammen ein ganz (un)gutes Bild über die Erotik der Digital Natives abgeben.
Eher weniger ergiebig diesbezüglich ist der neue Film eines Regisseurs, dessen an Skandalen und Konflikten reiche Karriere ihn für solche Themen eigentlich prädestiniert hätte. Die Rede ist von "La Vénus à la fourrure" von Roman Polanski. Vermutete man vorab, dass sich der mittlerweile 80-jährige Filmemacher der legendären Schriften des österreichischen Autors Leopold von Sacher-Masoch annehmen würde, entpuppt sich das Werk als schnöde Theaterverfilmung.
Polyfilm
Krieg unter der Gürtellinie
In seinem Broadway-Hit "Venus in Fur" stellt der Autor David Ives einen Bühnenregisseur in den Mittelpunkt, der an einer Adaptation des gleichnamigen Klassikers der erotischen Literatur arbeitet. Als das Casting schon dem Ende zugeht, stürmt eine Darstellerin den leeren Saal, die dem müden Thomas mit ihrer vulgären Art zunächst auf die Nerven geht. Unnachgiebig erkämpft sich die Fremde, die wie Sacher-Masochs dominante Heldin ausgerechnet Vanda heißt, aber die Aufmerksamkeit.
I am tired, I am weary
I could sleep for a thousand years
A thousand dreams that would awake me
Different colors made of tears
Kiss the boot of shiny, shiny leather
Shiny leather in the dark
Tongue of thongs, the belt that does await you
Strike, dear mistress, and cure his heart
("Venus in Furs", The Velvet Underground)
Roman Polanski versetzt das Vorsprechen in ein altes Pariser Theater und versucht dieses einzige Szenario mit eleganten Kamerafahrten, der burlesken Musik von Alexandre Desplat und nicht zuletzt den ausgesuchten Darstellern filmgerecht zu machen. Mathieu Amalric und Emanuelle Seigner schlüpfen in die verschiedenen Facetten von Tom und Vanda, die sich im Laufe von "Venus im Pelz" offenbaren.
Als Problem erweist sich aber das Stück selbst. Zwischen den Protagonisten entwickelt sich ein Psychoduell, dass in Geschlechterklischees erstarrt. Zwar blitzen immer wieder sehenswerte Ansätze auf, von Referenzen an Polanskis Schaffen bis zu den unterschiedlichen Wandlungen, die Seigners Figur durchläuft. Aber letztlich bleibt auch die mysteriöse Vanda eine Karikatur, so wie Amalrics intellektuelles Midlife-Crisis-Opfer.
Ich musste irgendwie an grauhaarige Feuilletonisten bei "Venus im Pelz" denken, an etwas verstaubte Kritiker und Theaterwissenschaftler als faszinierte Zielgruppe. Angesichts der aktuellen filmischen Auseinandersetzungen mit Sex, Erotik und Entfremdung wirkt dieser Kammerspiel-Krieg unter der Gürtellinie wie aus dem vorigen Jahrhundert.
Ein sehr lesenswerter und ausführlicher Text zur Koketterie des Indie-Kinos mit Pornoansätzen fndet sich übrigens in der aktuellen Ausgabe von "The Gap".
Polyfilm