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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

16. 1. 2013 - 10:15

Körper in Not

Jacques Audiard liefert mit "Der Geschmack von Rost und Knochen" erneut ein ergreifendes Meisterwerk.

Ein fahles Gefühl der Trostlosigkeit hängt über den ersten Einstellungen dieses Films. Jacques Audiard zeigt einen Badeort an der sonnendurchfluteten Côte d’Azur als Ort der Tristesse, in trübes Licht getaucht.

Zumindest für Ali, einen arbeitslosen Ex-Boxer (Matthias Schoenaerts), der kaum seinen fünfjährigen Sohn ernähren kann, gibt es in seinem monotonen Alltag wenig Lichtblicke. Da ist diese Frau, auf die er als Türsteher eines Nachtclubs ein Auge wirft, aber Stéphanie (Marion Cotillard) erwidert seine Annäherungen nicht, als er ihr nach einer Auseinandersetzung hilft.

Dann schlägt das Schicksal in "De rouille et d'os" - so der französische Originaltitel - erbarmungslos zu, man kennt das aus den anderen Filmen von Jacques Audiard. Aus dem Straucheln und Stürzen der Protagonisten wird irgendwann stets ein Sturzflug in den Abgrund. In dem filmischen Adrenalinstoß "De battre mon coeur s'est arrêté" (Der wilde Schlag meines Herzens) droht ein rastloser junger Immobilienhai von Kleinkriminalität und seiner eigenen Zerissenheit versclhuckt zu werden. Im dunklen Kinowunder "Un prophète" verwandelt sich ein Gefängnisaufenthalt für einen schweigsamen Araber schnell in die Hölle auf Erden.

Die schöne Stéphanie, die in einem Ozeanpark riesige Killerwale trainiert, wird von ihren tonnenschweren Schützlingen unter Wasser gezogen. Die Leinwand verdunkelt sich, im Spital wacht sie ohne Beine auf.

Der Geschmack von Rost und Knochen

Polyfilm

Verwundete, verletzte, versehrte Antihelden

Wie Ali, der als grober Klotz durch die Welt schreitet, mit der verbitterten Stéphanie dann doch zusammenkommt, wie die beiden erneut auseinandergerissen werden, wie das Leben mit diesen Figuren unerbittlich spielt, dass gehört zu den mitreißendsten und ergreifendsten Kinoerfahrungen der letzten Zeit.

Jacques Audiard, der für mich zu den zentralsten Gegenwartsregisseuren zählt, steigert die anfängliche Leere zu purem Schrecken, bis dann plötzlich, mitten im emotionalen Chaos das Meer paradiesisch zu funkeln und glitzern beginnt und Katy Perrys Popschlager "Firework" zur euphorischen Gänsehaut-Hymne mutiert. Aber auch wenn an der Côte d’Azur endlich die Sonne scheint, ein Gefühl der Sicherheit gibt es nie in "De rouille et d'os".

Monsieur Audiard macht Körperkino, dass nicht nur von verwundeten, verletzten, versehrten Antihelden handelt, man spürt seine Filme regelrecht im Bauch, in den Muskelfasern, in den Knochen, da passt ausnahmsweise einmal ein deutscher Verleihtitel. "Der Geschmack von Rost und Knochen" verschwindet auch noch lange nach dem Kinobesuch nicht.

Der Geschmack von Rost und Knochen

Polyfilm

Was uns nicht umbringt, macht uns stärker

Wem das jetzt zu depressiv klingt: Jacques Audiard ist vor allem auch ein Filmemacher, der an das Menschsein glaubt. An Lernprozesse. An Hoffnung und Erlösung. Und an die Liebe. Es ist ein aufrichtiger Glaube, weit entfernt von den zynischen Drehbuchautoren Hollywoods, die auf die stets gleichen Charakterbögen und etablierten Dramagesetzen setzen.

In diesem Sinne sind auch Audiards Figuren echte Kämpfernaturen, die ihre Getriebenheit und ihr Außenseitertum am Ende nicht verleugnen, wie es im konformen Mainstream üblich ist. Die großartige Marion Cotillard und der nicht minder faszinierende Matthias Schoenaerts spielen diese Obsession unter Einsatz sämtlicher verfügbaren Kräfte.

Natürlich provoziert ein Film, der ungeniert soziale Diskurse und persönliche Emphase vermischt, der Faustwatschen und Zärtlichkeiten gleichermaßen verteilt, der das Grauen mit dem bewussten Kitsch vermengt, auch jede Menge feindseliger Reaktionen. Für die Berufszyniker unter den Kritikern, die Abgebrühten im Publikum und Intellektuelle, die sich hinter coolen Fassaden verschanzen, hat Jacques Audiard wieder einmal eine filmische Antithese erschaffen.

Wer das Kino aber auch als einen Ort der hemmungslosen Sentimentalität begreift und als Kathedrale der Katharsis, kann diese Symphonie aus Bildern, Tönen, Fleisch und Blut nur bejubeln. "Der Geschmack von Rost und Knochen" ist ein pathetisch pulsierendes Meisterwerk. Das Kinojahr 2013 fängt mehr als vielversprechend an.

Der Geschmack von Rost und Knochen

Polyfilm