Erstellt am: 5. 1. 2013 - 12:14 Uhr
Vom Durchdrehen und Durchhalten
Wenn man im Internet nach David O. Russell sucht, kommt man schnell auf Begriffe wie „Freakout“ und lustige Youtube-Videos. Auf einem besonders berüchtigten Clip ist der US-Regisseur beim rabiaten Auszucken zu beobachten. Die Schauspielerin Lily Tomlin, die auf Russells Anweisungen gereizt reagiert, wird von dem Filmemacher vor versammelter Crew in Grund und Boden gebrüllt. Ähnliche Konfrontationen mit George Clooney schwirrten ebenfalls lange im Netz herum.
Dabei wirkt der mittlerweile 54-jährige Filmemacher nicht wie ein manischer oder gar martialischer Kinodiktator. Zumindest auf den ersten Blick. David Owen Russell wird Mitte der Neunziger, als die New Yorker Independentfilmszene boomt, auf Anhieb zum Festivalliebling. Durchgeknallte Komödien wie „Spanking The Monkey“ oder „Flirting With Disaster“ erinnern an Woody Allen in dessen allerbesten anarchischen Momenten.
Mit der Golfkriegssatire „Three Kings“ beweist Russell, dass er nicht nur das Innenleben neurotischer New Yorker aufs Korn nehmen kann. Ein echter Geniestreich gelingt ihm aber 2004 mit der bizarren Familiengroteske „I Heart Huckabees“. Jude Law, Naomi Watts, Dustin Hoffmann und andere Stars liefern sich darin eine extrem köstliche Schlacht der Philosophien und Ideologien.
Ganz locker lässt David O. Russell Hedonismus und Nihilismus kollidieren, packt die Globalisierung, die drohende Umweltzerstörung, die allgegenwärtige spirituelle Leere, fundamentale Sinnkrisen und grassierende Beziehungsunfähigkeit in seinen närrischen Film, zum Drüberstreuen gibt es noch ein bisserl Quantenphysik und Zenbuddhismus.
Centfox
Welcome to Fight Club
Das ambitionierte Projekt „I Heart Huckabees“, das die zerissene Befindlichkeit vieler Leute im neuen Jahrtausend auf den Punkt bringt, floppt allerdings an den Kinokassen. Zurück bleibt für viele nur der erwähnte berüchtigte Ausbruch gegenüber Lily Tomlin, der den Regisseur im Netz zum hochgradigen Choleriker stempelt.
Tatsächlich dauert es etliche Jahre, bis David O. Russell wieder ein neues Projekt zustande bringt. Das Boxerepos „The Fighter“ kommt 2010 ungleich ernster daher, neben seinem liebsten Schauspielkumpel Mark Wahlberg tut sich der Filmemacher dafür mit einem anderen, in Sachen Anger Management etwas fragilem Charakter zusammen: dem unglaublichen Christian Bale.
"The Fighter", die wahre Geschichte der ungleichen Halbbrüder Micky Ward und Dicky Eklund, zehrt von einer ganz speziellen Ambivalenz. An der Oberfläche bedient der Film sämtliche Klischees des Boxerkinos, gleichzeitig versucht er ihnen doch zu entkommen, ihnen einen anderen Dreh zu geben, sie behutsam zu unterwandern.
Es ist eine Story innerfamiliärer Konflikte und sozialer Hürden, aber ohne zu tief in den Working-Class-Schmalztopf zu greifen. Die Tristesse des White-Trash-Milieus ist allgegenwärtig, aber auch jede Menge befreiender Humor. Und es geht auch, weit mehr als in vergleichbaren Filmen wie "The Wrestler" oder "Raging Bull", um die Glorifizierung von sportlichem Ehrgeiz und Kampfgeist, aber ohne den Pathos eines Sylvester Stallone.
Centralfilm
Der Psychopharmaka-Blues
Was verbindet einen exzentrischen Streifen wie "I Heart Huckabees" mit so einem bewusst schlichten, straighten Drama wie „The Fighter“, musste man sich als Fan von David O. Russell damals fragen. Die Antwort liefert sein neues (Meister-) Werk „Silver Linings Playbook“, in dem beide Ansätze verschmelzen.
Wir begleiten Pat Solotano, vormals Lehrer, bei der mühsamen Rückkehr ins Leben. Ein einziger, gewalttätiger Ausbruch, nachdem er seine Frau unter der Dusche mit einem Liebhaber erwischte, hat ihm Ehe, Job und Zuhause zerstört. Nach acht Monaten in einer psychiatrischen Klinik muss der Enddreißiger wieder bei seinen Eltern einziehen.
Die manische erste Viertelstunde des Films lässt mich nicht nur an den Lily-Tomlin-Vorfall denken. Mir schwirren auch ganz persönliche Fragen durch den Kopf. Wieviele Menschen in meinem Bekanntenkreis schlucken gerade irgendwelche Psychopharmaka? Wer hat im weiteren Umfeld schon eine Therapie hinter sich? Welche potentiellen Befindlichkeits-Störungen verbergen sich unter so mancher Alltagsfassade?
Wie viele seelisch Gestrauchelte klammert sich auch Pat Solotano an die Idee eines emotionalen Neubeginns. Aber das mit dem positiven Denken und dem „Silberstreifen am Horizont“ sagt sich so leicht. Der bipolare Antiheld aus „Silver Linings Playbook“, unerwartet großartig von Bradley „The Hangover“ Cooper verkörpert, hat nämlich einen arroganten Streberbruder und vor allem einen äußerst komplizierten Egozentriker als Vater.
Senator Film
We are family
Nicht gerade ausgleichend wirkt sich auf Pat auch seine junge Nachbarin Tiffany aus, deren Mann bei einem Unfall getötet wurde. Seitdem versucht sie nicht nur mit obsessivem Sex das Trauma zu verdrängen. Wie Pat ist Tiffany eine Expertin in Sachen bunter Pillen und lustiger Beruhigungszuckerl.
Durchdrehen und Durchhalten, darum geht es also auch diesmal bei Regisseur Russell. Das Kernthema, an dem er sich aber in fast allen seinen Filmen abarbeitet, ist die Familie, das wird mit seinem neuen Streifen endgültig klar. Nach Patchworkfamilien, Ersatzfamilien und zerstückelten Familien widmet sich „Silver Linings Playbook“ nun der althergebrachten kleinbürgerlichen Konstellation, inklusive potentieller Katastrophenszenarien.
Man möchte sie alle umarmen, die Verwirrten und Verhuschten in diesem Film. Allen voran die umwerfende Jennifer Lawrence, die als Tiffany nicht nur Bradley Cooper den Kopf verdreht. Robert de Niro wiederum, der den verbitterten Daddy Solotano gibt, überrascht in seiner ersten mitreißenden Rolle seit gefühlten Jahrzehnten.
Dass David O. Russsell nicht nur die absurde Komik seiner dysfunktionalen Komödien mit dem Gänsehaut-Pathos von „The Fighter“ paart, sondern auch die Liebe im Sinn des ganz klassischen Hollywood ins Spiel bringt, dürfte für unromantische Geister einiges kaputtmachen. Für mich alte Heulsuse passt einfach alles an diesem komischen, traurigen, im besten Sinne menschelnden Kino-Highlight, dem ersten Pflichtfilm im neuen Jahr.
Senator Film