Erstellt am: 27. 12. 2011 - 15:53 Uhr
Netzwerke statt Strömungen
- Rewind 2011 - Der FM4 Jahresrückblick
Ohne wie der altkluge Onkel am Weihnachtstisch zu klingen, der jede festliche Gelegenheit zur Selbstdarstellung benützten muss, sind mir dieses Jahr vermehrt Gedanken wie "früher war das alles schon sehr anders" durch den Kopf gegangen. Die musikalische Szene in Österreich war vor zwanzig Jahren nämlich nicht selten von Neid und Missgunst geprägt, zumindest was meine damaligen Beobachtungen und Erfahrungen betrifft. Hatte die "Nachbarband" in einem kleinen Volksmusikstudio auf einem 8-Spur Gerät vielleicht doch die poppigere Nummer aufgenommen oder durfte sie als Vorgruppe eines internationalen Acts gerade mal zwanzig Minuten auf der kleinen Jugendzentrum-Bühne stehen, dann konnte man es sich nicht nehmen lassen, zumindest über ihre unzureichende Professionalität herzuziehen. Die Geographie spielte damals sowieso eine große Rolle, vor allem wenn man nicht in entscheidungstragenden Gruppen der großen Hauptstadt involviert oder dort zumindest seine Fürsprecher hatte. Auch medial überstieg die Berichterstattung über die heimische Musikszene fast nie die allgemeine Wahrnehmungsschwelle.
Eva Brunner
Umso schöner, bewegender und beglückender war es für mich, die mit an Lichtgeschwindigkeit grenzende Entwicklung und innere Vernetzung der österreichische Musikszene in der letzten Dekade mitzuerleben. Und diese Welle reißt nicht ab. Ähnlich wie letztes Jahr blieb auch 2011 kaum Zeit zum Verschnaufen, um all die großartigen Alben und Projekte vorzustellen.
Popgalaxien und Balladen wie aus dem Bilderbuch
Gleich zu Jahresbeginn entführten uns I Am Cereals, das elegante Elektropoptrash-Projekt von Ben Martin und Bauchklang-Mann Gerald Huber in ihr neues, glitzerndes und frisches Klanguniversum. Neben dem großartigen Anti-Krisendepressions-Tanzstück "You Know What" (das jetzt gerade auch eine schöne visuelle Umsetzung erfahren hat) machte vor allem das kunstvoll animierte Stop-And-Go Video zu "Galaxy" die Runde bei vielen Wettbewerben und konnte einige Preise einheimsen.
Deckchair Orange
Ebenfalls in den ersten Monaten 2011 legte der sad ballad man Bernhard Eder das wohl durchwachsenste (im positiven Sinne) Werk seiner bisherigen Singer/Songwriter Laufbahn ab. Gewohnt zerbrechlich, aber auch mit dem Mut und dem guten Händchen für Arrangements sind Streicher und Bläser auf dem Album zu hören, während uns Bernhard erneut ein Stück durch seine inneren Seelenlandschaft führt. Aber auch im tanzbodenorientierten Indierockbereich zündeten zu Jahresbeginn gleich zwei große Feuerwerkskörper. Zum einen riefen Deckchair Orange ganz selbstbewusst "The Age Of The Peacock" aus, dessen mysteriöse Ohrwurmsingle "Stay" ebenso einschlug, wie der hippieeske Herzschlagsong "Heartbeat". In eine andere Kerbe, die vielleicht düsterer und verquerer, aber nicht weniger tiefgehend ist, schlugen Bilderbuch mit dem "schwierigen zweiten Album". Die Erwartungshaltungen gemischt mit dem selbst auferlegten Druck der Perfektionisten führten zu dem konzeptigen Werk "Die Pest im Piemont", mit denen die Oberösterreicher wohl endgültig ihre musikalische Unschuld verloren haben. Keine geschriebenen Parolen stehen mehr im Vordergrund, vielmehr mischen sich in Blut getränkte Kindheitserinnerungen mit der unvermeidlichen Ernüchterung des Erwachsenwerdens, musikalisch umgesetzt mit schnellen, vertrakten und ständig wechselnden Rhythmen, verzerrt aufjaulenden Soli und jede Menge eingängiger Gesangsmelodien.
Die prime cuts Wende
Ob man wirklich von einem Paradigmenwechsel sprechen kann, weiß ich nicht. Aber dieser Frühling brachte schon eine Wende der Gewichtung.
wolfram
Das Album der Woche Podest, mit dem wir eine Band in den Fokus der musikalischen Berichterstattung stellen, wurde sechs(!) Wochen lang von österreichischen Acts besetzt. Den Anfang machte der DJ-Glamour-Wunderwutzi Wolfram mit seinem selbstbetitelten Album, das nicht nur eine Retro-Euro-Disco-Diskussion vom Zaun brach, sondern elegant durch vierzig Jahre Elektroikgeschichte surft, wenn man dem Erschaffer glauben möchte. Danach bewiesen Attwenger mit ihrer siebenten Platte "Flux" wieder einmal, dass sie sich nicht selbst zu kopieren brauchen, sondern ihrem unverwechselbaren "Schlagzeug-Quetschn'Roll-Popkonzept" mit ihrer ungezwungenen und geraden Art "einfach" einen frischen Touch verpassen können, der schlichtweg begeistert wie beim ersten Hören des Duos. Und die Kritikerlieblinge Ja, Panik legten dann mit "DMD KIU LIDT" ein verqueres und kantig rockiges "Hörspiel mit stringenter Handlung" (© S. Ondrusova) vor, das schon alleine aufgrund des spaltungsindizierenden Diskurses Beachtung verlangt.
Radio FM4 / Katharina Seidler
Die ebenso viel beachtete und mit Preisen und Konzerteinladungen bedachte Band Kreisky rotzte uns dann mit dem gewitzt grantelnden "Scheiße, Schauspieler" eine Single hin, die man einfach nicht ignorieren kann. Die räudige Rockmaschine, die auf "Trouble" zur Höchstform anläuft, ist schwer zu bändigen und verlangt einem Gott sei Dank einiges ab. Auch bei dem österreichischen Rap-Urgestein Texta darf geschimpft werden. Allerdings richtet sich bei dem Song "You're driving me wild" die Aggression gegen die eigenen Bandkollegen, jedoch nicht ohne den für Texta typischen, selbstironischen Witz. Insofern ist auch der achte Wurf "Grotesk" zu Recht auf unserem Podest gelandet. So wie Clara Luzias "Falling into Place", ein düsteres und zugleich vor Hoffnung erstrahlendes Werk. Claras zerbrechliche Stimme steht mehr denn je im Vordergrund, versteckt sich nicht mehr hinter pompösen Arrangements und geht dadurch noch mehr ans Herz. Verantwortlich dafür waren unter anderem Hubert Mauracher und Soundingenieur Philipp Staufer, also eine neues Team, das Clara um sich geschart hat. Und das bringt mich schlussendlich zu dem Überbegriff für dieses heimische Musikjahr.
Umjubelte Netzwerke
Entgegen der internationalen Szene, deren mitreißendste Stromschnelle dieses Jahr wohl zweifellos die "Retromania" war (wie immer man dazu auch stehen mag, die zumeinst großartigen Chillwave-Surfpop-Sixtiesrock-Verwurstungen sprechen einfach für sich), ist auf österreichischem Sektor nicht wirklich ein genremäßger Trend auszumachen.
Maur Due & Lichter
Das hat nichts mit dem Fehlen des Amadeus Award 2011 zu tun, an dem man sich gerne abarbeitet, wenn es um eine Rückschau geht. Auch wenn man die Soundparkbands der Monate 2011 durchforstet, lässt sich musikalisch kein Expresszug ausmachen, auf den man gerne aufspringen möchte. Zu divergierend, zu vielschichtig sind die Produktionen, die sich wie im Fall von Maur Due & Lichter, Affe Maria oder auch Eloui den meisten Genreschubladen verweigert.
Was sich sehr wohl immer mehr zeigt, ist, dass die Netzwerktätigkeiten zunehmen. Die Arbeit der umtriebigen Musiker von Problembär Records greift schon mehr als nur an der Oberfläche. Dem Nino Aus Wien gelang mit "Schwunder" nicht nur ein schönes Album, sondern auch vermehrte Aufmerksamkeit in Massenmedien wie auch dem sechsköpfigen Musikerkollektiv Neuschnee, die mit ihrem zweiten Werk "Bipolar" einen wundervollen, musikkulturellen Clash vorgelegt haben. Aber auch unter der Oberfläche brodelt es nach wie vor. Valeot Records gelingt mit Werner Kitzmüllers grandiosem Debüt "Evasion" der Schritt Richtung anspruchsvollem Pop, LasVegas Records schickte mit The Helmut Bergers und Maur Due & Lichter Acts ins Rennen, die mit Remixes und Konzerten beginnen, sich mit ganz Österreich zu vernetzten und Ernst Tiefenthaler alias Ernesty International gründet gar die Ernesty Music Group (kurz EMG), ein Label mit dem er der befreundeten Sängerin
Pamela Rußmann