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Christian Lehner Berlin

Pop, Politik und das olle Leben

30. 11. 2011 - 18:10

Der Retro und seine Manie

Der britische Autor Simon Reynolds fühlt in "Retromania" der Vergangenheitsfixierung des aktuellen Pop auf den Zahn. Vorschau auf ein Homebase-Spezial am Donnerstag und Wiederauflage einer Review.

Vom Hunger auf sich selbst

Retromania

Faber and faber

"Retromania. Pop Culture's Addiction To Its Own Past" ist bei Baber and Faber, New York erschienen

Eine alte Binsenweisheit lautet: Es kommt erstens anders und zweitens als man denkt. Pop Will Eat Itself war nicht nur der Name einer wandlungsfähigen Band im Fall Out der originalen Post Punk-Ära. Es war auch die jahrzehntelang durch diverse Diskurskanäle geschleuste Befürchtung, dass das, was im Leben alles bedeutet, plötzlich nichts mehr ist. Wähnten sich coole Kulturlinke und Kunstsinnige, eskapistische Träumer, zornige Agitatoren, schöne Styler und räudige Straßenköter via Popkultur lange nicht nur auf der Höhe, sondern noch vor der Zeit, so scheint die Discokugel der Kassandra nun zerbrochen, oder irgendwo unauffindbar im Internet verloren. Doch nicht der an die Wand geschriebene Sell Out, die pöse pöse Kulturindustrie, der Scheiß-Kommerz oder der abscheuliche Mainstream sind die Übeltäter - auch wenn ihr Atem nach wie vor streng riecht. Es ist vielmehr die Entkoppelung von Pop und Zeit und somit Gesellschaft, Politik und Lebensbezug, die seine Aussagen, Produkte und Identitätsangebote in zunehmenden Maße irrelevant und kraftlos erscheinen lassen.

Simon Reynolds, Retromania

Christian Lehner

Simon Reynolds beim Interview auf der High Line, NY.

Für Menschen wie meinereiner, die ein Leben lang durch das Prisma des Pop auf das Leben selbst geschaut haben, hat dieser von Simon Reynolds in seinem Buch Retromania. Pop’s Addiction to It’s Past geäußerte Befund weitreichende Konsequenzen. Nicht nur für das Selbst- oder Weltbild, sondern auch für so Nebensächlichkeiten wie Brotberuf und Existenz. Vorausgesetzt, man schließt sich dieser These vorbehaltlos an.

Odd statt No Future?

Retromania

An dieser Stelle habe ich die Grundpositionen von „Retromania“ schon ein Mal zusammengefasst. Laut Reynolds steckt Pop in seiner eigenen Vergangenheit fest. Warum das so ist, macht eine spannende Lektüre, die uns von der Musealisierung und Kuratierung von Rock und Pop über ewig laufende Revivals, Reenactments klassischer Alben und Konzerte bis zum Verkauf des Immergleichen über verschiedene Medienkanäle und Repackagings führt. Reynolds Fazit: Pop bewegt sich nicht mehr auf der Höhe und schon gar nicht mehr vor der Zeit, sondern jenseits davon. Das Archiv hat die Innovation ersetzt.

Ich persönlich teile die Resignation von Reynolds nicht, muss mir die aktuell schwierigen Umfeldbedingungen von Pop deshalb aber auch nicht schönreden. Es liegt vielmehr an meiner - auch durch lustvolles Experimentieren und dementsprechenden Irrungen - angeeigneten Skepsis gegenüber Begriffen wie „Innovation“ (das britische Pendant zum amerikanischen „Authenticity“). Pop ist kein universeller Wert, kein ganzheitliches Gebäude und war auch nie per se ein Instrument der Emanzipation. Den Verlust der Dinglichkeit und Intervention beklagen dann auch vor allem jene, die eben das noch erlebt haben, die Politisierung in den 60s, das Aufbäumen des Punk, die Nachricht von der Straße im Hip Hop usw. Die Jungen juckt der Bedeutungsverlust am großen Parkett in der Regel schon viel weniger. Es gibt mittlerweile ja auch schon wesentlich mehr Spielplätze und Äußerungstools.

Anders formuliert: Möglicherweise liegt das Retro-Problem ja nicht so sehr an der Faulheit und dem Unvermögen der Beteiligten, den Untiefen des Netzes oder den prekären Rahmenbedingungen von Pop, sondern an den eigenen Erwartungshaltungen. Auch die sind Kinder der Zeit und haben somit ein Ablaufdatum.

Simon Reynolds, Retromania

Christian Lehner

Zukunftsaussichten

Vielleicht ist es aber eh genau umgekehrt und Retro ist der zwingende und logische Sound des Now nicht seine Nemesis. Datenbanken und Archive sind zu Goldminen und Schlachtfeldern geworden. Mehr denn je sind sie Schauplätze gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Warum sollte ausgerechnet Pop davor Halt machen? Und wenn die Altvorderen derzeit schon alles kaputtschlagen, wozu noch zeitgemäßer Punk? "No Future" singt der Börsenkurs und Wirtschafsexpete. Muss man da mitmachen? Die Verlockungen, sich auf symbolische Ebene die Vergangenheit zu krallen sind groß, wenn Gegenwart und Zukunft nicht allzuviel zu bieten haben.

Etwas anders der Ansatz von so unterschiedlichen Acts wie Neon Indian, Lana Del Rey und Odd Future. Mit ihrem Meta-Pop haben die Frischlinge in diesem Jahr die Müllhalden der Genre-Altlasten zur Seite geschoben und bewegen sich nun selbstbewusst zwischen hochaktuellen Sensibilitäten und Versatzstücken der Vergangenheit zu den neuen Bedingungen des Popbiz. Das regt an und auf und steht natürlich permanent unter Verdacht. Wie immer, wenn sich etwas - räusper - Neues tut.

Apropos: Auf die Frage, was vom Pop der letzten zehn Jahre im kollektiven Gedächtnis hängenbleiben wird, antwortete Reynolds beim Interview auf der High Line leicht verzweifelt und halb amüsiert: „Autotune!“.

Interview mit Simon Reynolds und Beiträge zu "Retromania" am kommenden Donnerstag in der FM4 Homebase.