Erstellt am: 1. 12. 2011 - 17:55 Uhr
Die Verweigerung des Upgrade
Retromania
- Der Retro und seine Manie: Der britische Autor Simon Reynolds fühlt in "Retromania" der Vergangenheitsfixierung des aktuellen Pop auf den Zahn.
- Der Retro und seine Bands: Eine Zitatensammlung zum Thema „Retromania“ + Fotoalbum!
- Die Verweigerung des Upgrade: Eine kurze Antwort auf Simon Reynolds Retromania
- Neuer Gitarrenpop aus Großbritannien: Das Quartett Veronica Falls setzt einen archetypisch britischen Sound fort, der als C86 - als Class Of 86 - bekannt wurde.
Simon Reynolds ist ein Musikjournalist, ich bin auch einer. Ich kenne die Frustrationen seines Berufs. Zum Beispiel die Emails von Redaktionen, die wissen wollen, was derzeit das Große Neue Ding sei.
Die alte Lüge vom Großen Neuen Ding
Es ist eine Frage, auf die sich nur mit einer Lüge antworten lässt, entweder im Selbstbetrug, wie ihn so viele Verkünder der jeweils jüngsten vermeintlichen Revolution im Pop so routiniert betreiben, oder - schließlich will auch der skeptische Journalist möglichst große Stories verkaufen - in der strategischen Übertreibung gegenüber der fragenden Außenwelt, die beharrlich der Illusion eines in aufregenden Spasmen dahinjagenden Fortschritts anhängt.
Dazu, meint man, sei sie schließlich da, die Popmusik.
Simon Reynolds ist also ein Musikjournalist und weiß als solcher so wie ich, dass es das wirklich Neue und das wirklich Große im Pop, den Moment, ab dem ALLES anders wird, schon lange nicht mehr gibt. Also hat er eben darüber einen Wälzer geschrieben.
"Retromania, Pop Culture's Addiction to its own past", ist eines der Bücher, die dick genug sind, dass die Mehrzahl derer, die sich darauf beziehen, es wenn dann nur auszugsweise gelesen haben.
Was schade ist. Denn Retro ist eine willige Zielscheibe, und Reynolds geht in seiner Analyse ein gutes Stück weiter als bloß endlos Beispiele für das gar nicht neue, endlos neue Aufgekochte in der Popkultur aufzuzählen.
Vom old school-Ideal zum ewigen Online-Archiv
Er geht bis an die Ursprünge zurück, den Knackpunkt zwischen 1965 und 1966, als plötzlich Elemente der Nostalgie in die Pop-Ästhetik einkehrten.
Oder das Paradox des Punk, der gefühlt Neues schuf, indem er dem sich per Definition als erneuernd verstehenden Progressive Rock mit einer Rückbesinnung auf die primitiven Wurzeln begegnete.
Oder den Moment, wo im Hip Hop das Prädikat "old school" zum erstrebenswerten Ideal wurde, ja noch genauer den von Anfang an nostalgischen Subtext der Sample-Kultur, die mit Schnipseln der kollektiven Erinnerung Vertrautheit erschuf.
Oder die Phase der Dance Culture, als die Sehnsucht nach der Dynamik der Pioniertage aus Rave-Flyers und ausschließlich für den Moment gedachten White Labels gesuchte Sammlerstücke machte.
Robert Rotifer
Er bemüht Vergleiche mit der Klassik Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, die sich in die Pflege des Katalogs und der Tradition flüchtete, während die Gegenwart im sogenannten E-Musik-Bereich ins Spezialistenghetto der zeitgenössischen Musik verdrängt wurde.
Er erklärt den Retro-Futurismus als die Sehnsucht nach einer perfekten Zukunft, die uns versprochen worden war, aber nie stattfinden sollte.
Und er beschreibt auf großartige Weise die ständige Anwesenheit der Vergangenheit in Zeiten des permanenten Online-Archivs.
All das wäre ein guter Ausgangspunkt für einen weiteren Schritt, den er aber nicht tut. Weil er, nach all dem Studium und nach all den Interviews, so wie ein Jazzer, der in seiner ausgedehnten Improvisation alle Skalen rauf- und runtergespielt und sich in seinem Spielrausch gar von ihnen befreit hat, ganz am Ende erst recht zum alten, abgenudelten Riff zurückkehrt: „I still believe the future is out there.“
Was für eine Enttäuschung, Simon Reynolds!
Kehren wir auch an den Anfang zurück, den Anfang dieses Texts, und sehen wir einmal, ob wir zu einer spannenderen Schlussfolgerung kommen. Ich verstehe Simon Reynolds' Frustration, weil ich auch Musikjournalist bin und nach irgendwas giere, das mitreißt, ohne sich dabei an Rückbezügen zu bedienen.
Robert Rotifer
Ich bin aber auch selbst ein Musikmachender und als solcher Zeuge des Musikmachens anderer. In dieser Welt habe ich zwar erlebt, wie Leute während der Produktion neue Werkzeuge entdecken und sich im Prozess des Musikmachens selbst überraschen, aber kein einziges Mal jemand getroffen, der/die am Anfang einer Produktion ernsthaft von der größenwahnsinnigen bzw. lähmenden Prämisse ausgegangen wäre, etwas noch nie Gehörtes zu erschaffen.
In seinem Vorwort zu „Retromania“ schreibt Reynolds: „Bisher war die Einleitung zu einem Buch immer das, was ich als letztes geschrieben habe. Diesmal beginne ich am Anfang. Ich habe nicht soviel Ahnung davon, was ich entdecken werde, bevor ich loslege.“
Klingt ziemlich ähnlich wie Musikmachen. Diese Analogie lässt sich fortsetzen bezüglich des Verhältnisses zwischen Form und Inhalt: Reynolds macht also seine inhaltlichen Entdeckungen, während er sich seiner erprobten Methoden und Fähigkeiten als Schreiber bedient, genauso wie einE SongschreiberIn das tut, der/die eine – soweit sie nicht gestohlen ist – inhaltlich neue Geschichte zu erzählen, ein Statement abzugeben, eine Stimmung zu vermitteln hat (ein freier Jam ist keine Antithese dazu, es gibt tatsächlich kaum etwas, das MusikerInnen so sehr zum Wiederholen des schon einmal Gemachten animiert wie ein freier Jam, der logischerweise wenig analytische Reflexion erlaubt).
Robert Rotifer
An dieser Stelle fällt mir was ein, das Jeff Tweedy von Wilco neulich gesagt hat:
„Es gibt nicht viel Auseinandersetzung mit Musik, die dem entspricht, wie Musik gemacht wird“, meinte er, als ich ihn auf jene Wilco-Kritiken ansprach, die seiner Band gern den Auftrag zur vorgeblichen Weiterentwicklung des Rockformats erteilen (welchen sie dann je nach KritikerInnenmeinung erfüllen oder nicht).
„Für mich wäre das Äquivalent dazu, dass man von Autoren erwartet, sie sollen eine neue Sprache erfinden, wann immer sie ein Buch schreiben“, erklärte Tweedy, „Für mich ist Rock'n'Roll eine Sprache. Es ist das Vokabular, das ich beherrsche. Es ist die Sprache, in der ich zu sprechen gelernt habe, und ich fühle mich nicht dazu berufen, ihr irgendwas hinzuzufügen außer vielleicht ein neues Wort hie und da. Wenn ich das Glück habe, einen Satz gebildet zu haben, der mir frisch und aufregend vorkommt, dann bin ich wirklich glücklich, und das ist alles, was man tun muss. Die Dichtung erneuert sich ständig, aber sie verwendet die gleiche Sprache. Und sie hat sich selbst in ein Eck gedrängt, als sie sich in die Idee verrannt hat, undurchdringlich und akademisch sein zu müssen. Rock'n'Roll ist nicht so, es ist eine Form, die sehr direkt spricht. Ich verstehe dieses Argument also überhaupt nicht. Auch die Popmusik muss sich immer erneuern, weil sie Mode ist. Sie muss daher wenigstens die Illusion erzeugen, dass sie sich erneuert. Aber sie tut das nicht wirklich. Sie wiederholt sich bloß in Zyklen. (…) Die Leute lassen sich von solchen Dingen ablenken.“
Robert Rotifer
Der kleine Baukasten der Popmusik
Tweedy, der nach amerikanischer Art Rock'n'Roll vom Pop trennt, ist ganz sicher kein Popfeind, aber er spricht eine Wahrheit aus, die auf beides zutrifft:
Die Popmusik bedient sich rhythmisch, harmonisch, melodisch per Definition eines, limitierten, wie man behaupten könnte, seit den Dreißigern oder Vierzigern eher kleiner als als größer gewordenen Baukastens, und die Forderung nach dem großen Schritt vorwärts ist das, was man im Englischen so schön einen Roten Hering nennt.
Es geht also – und das entspannt alles gleich enorm – nur um eine Pose der Erneuerung, statt um die zwangsläufig nur scheinbare Erneuerung selbst. Die Frage sollte somit sein, warum so viele zur Vermittlung ihrer Inhalte lieber die Vergangenheit als die Gegenwart oder gar die Zukunft evozieren.
Für mich, der daran selbst mitschuldig ist, liegt die Antwort unter anderem in dem nervenden blauen Punkt, der hin und wieder am unteren Rand meines Bildschirms erscheint und mich zur Erneuerung meiner Software auffordert.
Die Sache ist ja die: Genauso wie Futurismus faschistisch sein konnte, muss retro keineswegs reaktionär bedeuten.
Die Pose der Erneuerung im Pop war spannend, solange sie sich gegen das Verstockte in der Gesellschaft wandte. Wenn dagegen mein Arbeitsgerät mich ständig ungeduldig unter Androhung von Sicherheitsrisiken zum Update und zum Upgrade nötigt, wenn die Rhetorik der Zukunft, der Begriff der „Innovation“ nicht den SozialutopistInnen, sondern den Wettbewerbsfähigkeitsaposteln gehört, die damit den Abbau aller sozialen Errungenschaften der vorigen zwei Jahrhunderte meinen, dann wird Retro ein instinktives oder bewusstes Mittel zur Distinktion, ja kann sogar eine gültige Widerstandsgeste sein.
Das beweist Reynolds eigentlich ohnehin selbst in mindestens der Hälfte seiner rund 450 Seiten „Retromania“, von historischen Parallelbeispielen wie Punk bis zur heutigen Hauntology.
In seinem Beharren darauf, Retro, also die Verweigerung des Upgrade, grundsätzlich als Irrung zu verstehen, schwingt paradoxerweise eine gewisse Gestrigkeit mit. Die Beschwerde, es gäbe nichts Neues, war schließlich immer schon ein Alterssymptom. Die andere Seite der „Früher war alles besser“-Medaille.
Die Retrophobie ist retro, und das noch dazu auf die falsche, weil unbewusste Art. Also, soll ich die neueste Version runterladen, die mich mit einer Datenwolke verbindet und alle meine Geräte automatisch synchronisiert? Ich sage fürs erste einmal nein.
Und nächstes Mal, wenn mich ein Redakteur fragt, was denn eigentlich das große neue Ding ist, werd ich ihn einfach zuückfragen, wo er denn überhaupt lebt.