Mit der Weihnachtsgans im Bauch lässt sich bekanntlich nicht gut denken. Besonders dann, wenn es darum geht, ganze 365 Tage im Geiste und auf emotionaler Ebene Revue passieren zu lassen. Ein guter Anstoß war ein Link, den mir U. geschickt hat.
Dass es beim Wort und Un-Wort des Jahres meist keine Überraschungen gibt, ist nichts Neues. Umso erstaunter war ich, dass in der Kategorie "Jugendwort des Jahres" gleich ein ganzer Songtitel auftaucht, nämlich "Kabinenparty!" Das hätte sich der gute Skero wahrscheinlich auch nicht träumen lassen, dass sein profitabler Pophit gleich zu einem Schlagwort für die gegenwärtige Jugendkultur wird, die sich nicht in den Jet setzt, um mit Doktor XXL oder wem auch immer zur exzessiven Party in ein betoniertes Urlaubsziel eingeflogen zu werden, sondern den Sommer lieber in der kleinen Kabine des bevorzugten Freibades verbringt. Nicht zuletzt bringt allein dieser Song neben einer Platzierung in den großen 10 auch gleich zwei der beliebten gläsernen Lautsprecher-Megaphon-Hybriden beim Preis für die österreichische Musik ein.
Wirklich alte Schule?
Trotz Freiertagsbratensaft und Serviettenknödel fällt mir beim Stichwort Amadeus Austrian Music Awards gleich die zweite große Überraschung 2010 ein. Die Vergabe des FM4 Awards. Der ging dieses Jahr an Markus Wagner und Reinhard Rietsch a.k.a. Camo & Krooked. Interessant dabei war die im Anschluss losgebrochene Genrediskussion, ob man gegenwärtig noch Drum'n'Bass machen oder sogar gut finden darf, da genau dieser elektronischen Sparte komplette Stagnation nachgesagt wird. Somit sei es doch ganz einfach, sich in diesem Feld zu bewegen, einen Namen zu machen und einen Dancefloor-Kracher nach dem anderen abzuliefern.
Pamela Rußmann
Dass dem nicht so ist, dürfte mittlerweile dem Großteil der musikinteressierten Menschen klar sein. Und wenn das bei Camo & Krooked unentwegt zitierte "Netzwerken" als einziger Erfolgsgrund angeführt wird, übersehen die meisten dabei die Energie, die konsequente Arbeit, die unendlich vielen Reisen und permanenten Gigs, für die man mit Anfang/Mitte 20 zwar noch genug Ressourcen hat, die aber trotzdem an die Substanz gehen. Umso sympathischer ist auch das von Eva Brunner beschriebene private Umfeld der beiden Produzenten, die trotz weltweitem Herumgereichtwerdens eine gute Bodenhaftung aufweisen:
"Im Studio-Wohnzimmer von Camo im 2. Bezirk in Wien steht eine Schale mit Obst aus Omas Garten, im Backrohr brutzelt eine Lasagne und der Gartenzwerg im Regal hat einen Ghettoblaster auf der Schulter."
Eigentlich ist es vollkommen egal, ob Kritiker und Neider meinen, dass sowieso die ganze Drum'n'Bass Szene und deren Musik tot ist. Den Erfolg des österreichischen Duos kümmert es ohnehin nicht, ob er sich nun in einem lebendigen oder nicht mehr existenten Genre rund um den Globus ausbreitet.
Totgesagte leben länger
Ich weiß, ich hätte nach dem finalen Käse und den Trauben nicht noch ein paar Vanillekipferl nachschieben sollen. Dann würden mir nämlich vielleicht doch noch alle 35 Nominierten für den Amadeus FM4 Award einfallen. Aber sich alleine diese Anzahl noch einmal ins Gedächtnis zu rufen macht klar, welchen qualitativ hochwertigen Output die heimische Szene mittlerweile produziert. Und dabei mischen sich unter die üblichen Verdächtigen auch genug neue und frische Bands, die mit ihrem ganz eigenen Musikverständnis abseits ausgetretener Pfade wandeln.
Aber auch die "alten Hasen" melden sich in diesem Jahr mit großartigen Alben zurück. Obwohl auch dieses Format schon längst totgesagt ist, liefern uns gerade die etablierten Bands und Musiker sehr stimmige, in sich geschlossene und trotzdem abwechslungsreiche Gesamtkunstwerke ab. Gleich zu Jahresbeginn beweisen uns die Burgenländer Garish ihre Liebe zur Musik und sich selbst, dass noch viel Potential in ihnen schlummert. Angeregt durch Produzent und Freund Thomas "Kantine" Pronai macht das lyrische Quintett auf der fünften Studioplatte "Wenn dir das meine Liebe nicht beweist" nicht nur all seine Erfahrung und das angeeignete, kunstvolles Songhandwerk hörbar, sondern erlebt durch strukturelle Veränderung eine dynamische Frischzellenkur. Es darf wieder experimentiert und gelärmt werden, man verbietet sich selbst nicht mehr den Mund und schon gar nicht Melodien.
Sofa Surfers
Die Sofa Surfers haben nach fünf Jahren des Schweigens 2010 ihre Veröffentlichungsliste erweitert. "Blind Side" handelt nicht etwa von den eigenen blinden Flecken, denn musikalisch hat sich diese Band sich stetig gewandelt. 2010 präsentieren die Sofa Surfers ihre "grantige" Grundstimmung mit vorwiegend verzerrten Gitarren während die Stimme des langjähigen Sängers Mani davon erzählt, wie einen das Leben so richtig kalt erwischen kann.
Der wandelbare Altmeister Hans Platzgumer hingegen beschert uns mit seinem Herzensprojekt Convertible neuen Stoff für lange Abende am knisternden Kamin, ist doch das vierte Album ALH84001 quasi seine Suche nach der "Urmusik", wenn man so will. Etwas jünger und doch auch Meister des Klangs und der Produktion ist Hubert Mauracher nach seinem letzten Soloalbum "Loving Custodians" einen neuen Weg gegangen. Es war Zeit für ein frisches Projekt und was dem sympatischen Musiker mit Ping Ping "einfach so passiert" ist, hat es sogar zum FM4 Album der Woche "gereicht".
Der abgeschossene Popvogel
Erst nach einem zweiten, verdauungsfördernden Espresso fallen mir die Sachen ein, die ich in meiner Rückblicksgeschichte auch noch unbedingt unterbringen wollte.
Da wäre zum Beispiel das Label Problembär Records, das nicht nur sein dreijähriges Jubiläum gefeiert hat, sondern mit Bands wie Mob, Neuschnee, Nino aus Wien und Parkwächter Harlekin den Begriff des österreichischen Pop von seinen Assoziationsaltlasten ein gehöriges Stück befreit hat.
Was mich wiederum zum Wienmusik 2010-Sampler bringt, der nicht nur einen guten musikalischen Überblick über die Szene der Hauptstadt bietet, sondern auch das Begleitgeschenk zum ersten Popfest Wien war. Auch die großartigen FM4 Soundpark Studio 2 Sessions mit Lehnen, Lonely Drifter Karen, Velojet, Dust Covered Carpet, Ogris Debris und vielen mehr sollten nicht unerwähnt bleiben, sowie unsere eigene Soundparktour, die mich wiederum zu meinem persönlichen Highlight 2010 bringt: Francis International Airport.
Niko Ostermann
Erneut könnte ich jetzt hier ins Schwärmen kommen, denn mit ihrem Album "In The Woods" hat das Quintett für mich dieses Jahr absolut den Vogel abgeschossen. Derart ausgewogene, detailverliebte, eingängige, abwechslungsreiche und berührende Songs auf einer einzigen Langspielplatte habe ich schon lange nicht mehr gehört.
Trotzdem bin ich mir sicher, dass mich auch im Jahr 2011 viele hervorragende Produktionen aus Österreich begeistern werden. Wenn ich da an die kommenden Veröffentlichungen denke (wie etwas I Am Cereals, Bernhard Eder, Sado Maso Guitar Club, Sawoff Shotgun, Clara Luzia, ...) dann kommt mir wieder Skeros Refrain in den Sinn, der auch für die nächsten zwölf Monate das Motto der heimischen Szene sein könnte: "get scho gemma vuigas!"