Erstellt am: 20. 11. 2011 - 13:43 Uhr
"Am Ende siegt das Leben"
Liegt es an mir oder der nebeligen Vorweihnachtszeit? Es sind die langsamen, zum Nachdenken anregenden Platten, die mich zur Zeit komplett einnehmen. Zyniker könnten behaupten, das sei der anerzogene Besinnlichkeitsautomatismus der Adventszeit. Ich spüre jedoch: es ist viel mehr als das.
In den zwei Schwerpunkten dieser FM4 Soundparknacht wimmelt es von Gegenwartsbezügen und Kindheitserinnerungen. Alles kreist um eines der wichtigsten Themen in der Musik: das Mitteilen tiefer Emotionen. Was vielen Unbehagen bereitet, wenn sich Künstler noch dazu in deutscher Sprache offenbaren. Dass das nicht nur unpeinlich, sondern auch spannend, witzig und berührend funktionieren kann, das soll diese Nacht der österreichischen Musik ein Stück weit beweisen.
Leben zwischen den Polen
Hans Wagner dampft gerne in allen Gassen. Der ausgebildete Cellist spielt bei Das Trojanische Pferd an der Seite von Hubert Weinheimer, produziert andere Künstler wie den Parkwächter Harlekin und versucht sich mit Couch Records-Chef Vlado dZihan als Hans Im Glück (von dem wir Anfang nächsten Jahres ein feines Debüt Album erwarten können).
Neuschnee
Neuschnee live:
- 12. Dezember Adventrundgang, mica Wien
- 14. Dezember CD Releasekonzert, Garage X, Petersplatz Wien
- 15. Dezember Singer/Songwriter Circus, Ostclub Wien
Seine ganze Erfahrung und sein ganzes Können flossen in letzter Zeit jedoch in das sechsköpfige Bandprojekt Neuschnee. Das Ergebnis heißt "Bipolar", ein zwischen den Polen der Extreme oszillierendes Werk. Stilistisch pendelt Hans Wagner zwischen kammermusikalischem Singer/Songwritertum, das mit seinem Streichquartett auch Elemente der Klassik auf ganz selbstverständliche Art integriert, und eckigem, rotzig frechem Rock, dem zweiten Genre-Epizentrum der Platte.
Neuschnee
Während Hans Wagner auf "Hyperaktiv" zu verzerrten Saiteninstrumenten komplett restfett über Fettresten hinfortstolpert, stellt er sich in der zarten Ballade "Wolfsmilch" den großen Lebensfragen. Denn ohne im Licht der Selbstreflexion Verantwortung zu übernehmen, ist keine Entwicklung möglich. Und genau das zeichnet den eigenwilligen und großartigen Musiker aus, der den Mut besitzt, uns daran teilhaben zu lassen, wie er sich seinen Lebensaufgaben stellt.
Neuschnee haben ihren ganz eigenen Blick auf die Welt. Da werden nicht die Supermodels besungen, sondern der schiefe Zahn und das Grübchen. Für Hans die "wahre" Schönheit, die ihn glücklich macht. Unsere Narben und unsere grundsätzliche Asymmetrie werden nicht versteckt oder gar versucht wegzuretuschieren, sondern ausgiebig gefeiert, da sie uns zu dem machen, was wir sind.
Zornig wird der in Berlin aufgewachsenen Poet nur dann, wenn es darum geht, sich die Ungerechtigkeiten und die Ohnmacht von der Seele zu schreiben. Hans Wagner hat es geschafft, seine ganz eigene Bildsprache zu kreieren, um damit etwa zum Schlag gegen die Verursacher der Wirtschaftskrise auszuholen. Kraftvoll und zielsicher wird der zum Beispiel in "Du bist nicht allein" ausgeführt. Mit Rage Against The Machine-ähnlicher Songstruktur, krachenden Streichern und brachialem Schlagwerk schafft Hans nicht nur ein witziges und zugleich ernsthaftes Szenario im Kopf, sondern darüber hinaus auch noch einen perfekten Ohrwurm.
Hans Wagner steht uns heute in einer ausführlichen Listening Session Rede und Antwort zu dem wirklich großen Musik- und Themenuniversum von "Bipolar". Da darf dann auch schon mal lebensphilosophisch herumgeschwurbelt werden, wie es der Künstler selbst gerne ausdrückt.
The promoter of scilence
Reduktion kann ein ungemein wirkungsvolles Mittel sein. Der Wiener Pianist und Sänger Martin Klein hat dieses Mittel perfektioniert.
www.traumton.de/blog/?p=1002
Martin Klein live:
- 22. November Brut im Konzerthaus, Wien (CD Release)
- 24. November Autumn Leaves Festival, Graz
- 30. November Weekender, Innsbruck
Als Kind hat Martin Cello gelernt. Neben einem Streichquartett mit seinen Schwestern hat es ihn damals schon zum Klavier gezogen. "Erst mit vierzehn Jahren", wie Martin selbst meint, setzte er sich in Innsbruck ans elterliche Tasteninstrument, um"herumzuklimpern". Mit dem Umzug nach Wien kam auch immer mehr der Wunsch, sein Leben ausschließlich der Musik zu widmen. Der Schritt weg vom Autodidakt hin zum Studierenden führte den sympathisch und manchmal schüchtern wirkenden Musiker nach Holland. Dort lernte er bei dem blinden Klavierlehrer Bert van den Brink. Das tägliche Ritual, ihn vom Bahnhof abzuholen, zur Schule zu begleiten und dann von ihm über die schwarzen und weißen Tasten geführt zu werden, hat sich für immer in seine Seele gebrannt.
Sascha Pierro
Mit "Lass uns bleiben" erscheint Martin Kleins zweites Album. Diesmal jedoch ohne Band, ohne Instrumenten- oder Produktionsmakeup. Nur Martin, sein Klavier uns seine berührende Stimme. Aufgenommen in einem Ballsaal der 1920iger Jahre in Berlin, in nur zwei Nachmittagssessions. Eingespielt und eingesungen zur gleichen Zeit, mit unglaublichem Mut zu Lücken und Räumen zwischen den Tönen. Das Stück "Alles zu Boden" lebt von nur ganz wenigen Akkorden, die von einer sanften Melodie umspielt werden und mit mantraartigen Sätzen eine hypnotische Wirkung erzeugen, die ewig weiterklingen könnte. Es sind immer wieder solche Momente, die "Lass uns bleiben" zum eindringlichen, intimen und zugleich fast "unstillbaren" Hörerlebnis machen.
Egal, ob Martin im Park liegt, die am Himmel vorbeiziehenden Wolken betrachtet und sich der Leichtigkeit des Seins hingibt, oder ob er versucht, endlich den dicken, schweren Mantel der Nostalgie abzustreifen, immer ist er mit Bedacht und Gefühl an den Tasten. Er fordert über swingende Akkorde "Courage", bittet uns, ihm mit dem wundervoll flirrenden Stück "Komm mit mir" in seine Welt zu folgen und macht uns in "Träum" klar, dass es schön ist, seinen Gedanken und Wünschen nicht nur nachzuhängen, sondern auch nachzugehen. "Lass uns bleiben" ist ein wahres Geschenk, eine wundervolle Entschleunigung des Alltags, eine Ode an die leisen Töne und die Bedeutung der Stille. Und über allem ist es ein nicht nur musikalisch, sondern auch menschlich beeindruckendes Werk. Wir streifen mit Martin Klein im FM4 Soundpark durch seine ganz persönliche Geschichte und verweilen immer wieder im Berliner Ballsaal, um seinen zarten Klavierklängen zu lauschen.
Fahrplan durch die Sendung
- 01:00 bis ca. 02:00 Uhr: Listening Session mit Martin Klein
- 02:00 bis ca. 03:00 Uhr: Anläßlich der FM4 Soundpark Tour Wiederholung eines Interviews mit The Beth Edges und eines ihrer Live-Sets aufgenommen am FM4 Frequency Festival 2010.
- 03:00 bis ca. 04:00 Uhr: Teil 1 der Austrian Flavors von Makossa & Sugar B's Swound Sound System
- 04:00 bis ca. 05:00 Uhr: Sounpark in the mix mit neuen Alben von Stootsie und Votava
- 05:00 bis 06:00 Uhr: Interview mit Hans Wagner von Neuschnee zum Album "Bipolar"
Wer seine Lauscher in der Sonntagnacht lieber am Polster deponiert, kann die Sendung ab Montag 21. November Mittag 7 Tage lang on demand nachhören.
... am Ende siegt das Leben,
und kommt zu dem der weint.
(Neuschnee - "Wolfsmilch")