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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

21. 8. 2010 - 18:31

30 Seconds too long from Bilderbuch to Tote Hosen

Von Bilderbuch und The Beth Edges, zu Archive, Zoot Woman und 30 Seconds To Mars bis hin zu Billy Talent und den Toten Hosen.

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Der Programmgestaltung für die Race Stage scheint am Samstag so ziemlich jeglicher etwaiger Gefühlssinn abseits des sicherlich notwendigen ökonomischen Vernunftdenkens abhanden gekommen zu sein. Nicht nur ausschließlich angesichts dieser Kulisse an Musik, die hier heute noch folgen wird, stellt die Band Bilderbuch einen Lichtblick dar. Das aus Oberösterreich stammende, mittlerweile nach Wien verzogene Quartett kann um halb drei Uhr nachmittags auch schon bei größter Hitze nicht wenige Fans vor die Bühne holen. Die jungen Herren um die 20 basteln da im klassischen Gitarrenband-Format schmissigen Indierock, der auch schon von der zickigen Postpunk-Schule im Geiste von Gang Of Four gehört haben dürfte – wenn auch vielleicht nur über den Umweg von deren Nachkommen von Franz Ferdinand. Gitarrenmusik to make people dance. So bemüht die Band in einem Songtitel auch die viel gepriesene, mittlerweile wahrscheinlich schon sehr bald überstrapazierte „Discokugel“, und solch Textzeilen wie „Schwing Deine Beine, Baby!“ kommen dem Sänger und Gitarristen Maurice Ernst mit der nötigen, das eigentlich recht banale Bild brechenden Distanz über die Lippen. In den Texten von Bilderbuch liegt eine ihrer Stärken, die olle Idee „Ironie“ wird da nicht schenkelklopfend als Insiderjoke verkauft, den eh jeder versteht, sondern mit der Messerspitze in die Songs geschnitzt – auch wenn der jugendliche Hymnen-Überschwang der Gruppe da und dort einen Touch Poesiealbum-Betulichkeit nicht ganz loswerden kann. So muss das aber wohl sein.

Überraschend auch, wie souverän die Band – noch einmal: um die 20 Jahre alt – die große Bühne bedient – das betont erratische Gestikulieren des Sängers, das Talking Head David Byrne zu zitieren scheint, ist da und dort dann aber doch einen Tick zu bemüht. „Frisch aus dem Studio“ kommen Bilderbuch gerade, wie sie sagen, es folgt der Nachfolger zum Debütalbum „Nelken und Schillinge“, das kann echt noch was werden. Eine Band, die ihre Songs beispielweise „Calypso“ nennt, und in der der Gitarrist zwischendurch Bongos beklopft, kann so verkehrt ja auch gar nicht sein.

Über den Auftritten der Nickelback-Goes-Melody-Core-Tribute-Band Blue October und des Acts „Norbert Schneider“ hängt ein Vorhang des Schweigens. Da wird man ja depressiv von so was. Derweil kann man in der sehr gut gefüllten Weekender/Plingg-Stage noch ein bisschen genauer sehen, dass Indie aus Österreich nicht unbedingt mit Peinlichkeit einhergehen muss. Zumal mit englischem Gesang, der ja nicht selten zuvorderst ein unumschiffbares Hindernis darstellt. Die ebenfalls zu viert operierende Band The Beth Edges spielt good old handgestrickten Rock'n'Roll, der hauptsächlich britischen Schule, aus dem man gut und gerne, wenn man denn will, die Libertines oder die Arctic Monkeys und andere Engehosenbands der Nuller-Jahre – und auch deren Vorläufer - heraushören kann. Das ist zwar vom Rezept her prinzipiell einigermaßen konventionell, aber in der hier präsentierten Darreichung dermaßen gut und mitreißend gemacht – man möchte fast staunen. Und sich wundern darüber, obwohl die Eigenschaft „Professionalität“ für gewöhnlich keine ist, die man an einer Künstlerexistenz als besonders prickelnd empfinden will, wie gut eingespielt – tight , sagt man – dabei trotzdem locker und auch noch schüchtern ein bisschen dazu die auch eben erst dem Schulalter entwachsenen Beth Edges ihre eleganten Songs auf die Bühne hieven. Der Applaus sagt Ähnliches.

Lustvoll gelitten und gelangweilt wird hingegen von der vielköpfigen britischen Gruppe Archive. Im Spannungsfeld von TripHop, Elektronik und groß angelegter Rock-Geste hat die Gruppe einige durchaus ansprechende Platten veröffentlicht, live wird hier donnernder Synthesizer-Bombast, mal sphärischer, mal ausladend greinender Gesang und Gitarrengenudel als experimentelle, möglichst große Emotionen hervorrufende Musik missverstanden. Passt gut zu Fernsehwerbung für Parfüm. Herbe Düfte.

Wer gemeint hätte, die englische Band Zoot Woman müsse heute quasi im Vorprogramm der Triple-Rock-Attacke 30 Second To Mars/Billy Talent/Tote Hosen mit ihrem zärtelnden Synthie-Pop im Silberhandschuh auf der Hauptbühne unerbittlich untergehen, irrt. „Come on Frequency, let me see your hands!“, sagt Sänger und Gitarrist Johnny Blake – und er bekommt die Hände zu sehen, selbst von muskulösen Oberkörpern mit Tribal-Tattoos, selbst wenn der Disco-Beat aus der Konserve besonders schön pumpt. Vor gut 10 Jahren hat das aus den Brüdern Johnny und Adam Blake und Stuart Price bestehende Trio Zoot Woman das 80er-Jahre-Revival erfunden und aus drei bis vier variierten Ideen drei ziemlich gute Alben gesponnen. Und damit eine veritable Karriere aufgebaut, die betont stylish den weißen Glitzer-Anzug und die schicke Pose ins Schaufenster stellt. Langsam wird die Idee ein bisschen alt, die ewigen Rückgriffe auf blau-äugigen Soul von Hall & Oats, auf Human League, auf Kraftwerk. Live funktioniert das alles jedoch noch relativ gut. Johnny Blake trägt heute blauen Anzug und türkise Schuhe, Adam sitzt wie gehabt an den Drums, als Permanent Replacement von Überproducer Stuart Price, der vermutlich gerade wieder an neuen Platten für Madonna oder Seal (Gerüchten zufolge aber tatsächlich für Take That samt Robbie Williams) schraubt, ist Jasmine O’Meara an Bass, Background-Gesang und Minimal-Elektronik.

Zoot Woman wissen, ein Festival ist ein Festival und spielen deshalb so gut wie ausschließlich Hits, eigentlich haben sie auch ausschließlich Stücke auf das Format hingetrimmt sind. „We Won’t Break“, „Lonely By Your Side“, „Grey Day“ etc. Das minimalistische Set-Up und die Tatsache, dass hier einiges vom Band zu kommen scheint, stört auch den härtesten Rocker nicht: Angesichts des unglücklichen Spots könnte man fast behaupten, dass Zoot Woman regelrecht abgefeiert werden. Die Stücke vom 2001 erschienen Debütalbum „Living in a Magazine“ sind nach wie vor die besten: „It’s Automatic“ und der Titelsong beispielsweise. Eine Band, die ein einziges Konzept beharrlich ausreizt und dabei auf einige sehr gute Stücke stößt. Langsam wird es finster.

You Came to See a Rock Show, a Big, Motherfuckin Cock Show. You Get It: Über seine Karriere als Schauspieler will Jared Leto in Interviews nicht mehr befragt werden, den Hang zur, nein, die Personifizierung von Theatralik kann er nicht loslassen. Da geht man also hin, mit den besten Absichten, wirklich, dem Herren und seiner Band 30 Seconds to Mars eine Chance zu geben, nur um nach wenigen Momenten das Wort „Fassungslosigkeit“ neu definiert zu bekommen. Ich habe das Ende der Musik gesehen. Jared Leto begreift das Rockstarsein einzig und allein als Posterboystarschnitt aus dem Katalog. Zweifellos adrett aufgeschniegelt, in Jeannie-Pants, einem blau-weißen Jäckchen, das Lady Gagas Sommergarderobe gut zu Gesicht stünde, nach Wallmart-Punk-Style blondiertes Haar und rote Lederhandschuhe. Keine Pose aus dem Mötley-Crue-Handbuch wird ausgelassen. Selbst wenn man die absolut ahnungsfreie Formlosigkeit der Musik von 30 Seconds to Mars überhört, die da irgendwie mit leisen Ahnungen von Hardrock und Emo einzig an glückshormon-induzierenden Mitgröhl-Chören aus den Leben entrechteter Teenager arbeitet, ist Jared Leto unerträglich. Ist der Typ for real?

In keiner Casting-Show auf diesem Planeten fände man einen jungen Mann, der das besser kann – einen Rockstar „darstellen“. Mit betont lässigem Nebenbeischlänker – jeder soll es sehen – wird das Gitarren-Plektrum ins Publikum geschleudert und die Faust in den Himmel gereckt. Letos Lieblingsbewegungsablauf ist die gebückte Rocker-Pirouette, jedes zweite Wort ist „Fuckin’“ oder „Motherfuckin’“: „Touch the fuckin’ sky tonight, Austria!“ Ein Stück heißt allen Ernstes „Search & Destroy“. When Metal turned into Hair Metal. Das Publikum hat der Sonnyboy freilich auf seiner Seite, für das letzte Stück, den Hit „Kings And Queens“, das ist das Video mit den coolen Fahrradfahrern, werden haufenweise junge Menschen aus dem Publikum auf die Bühne geholt, um das Gemeinschaftsgefühl zu spüren, das da 30 Seconds to Mars heißt. Selbst wenn man in das diffuse Konstrukt „Alternative Rock“ nicht mehr allzu viel hätte investieren wollen, sieht man die Idee dahinter hier endgültig hinein in die absolute Selbstpersiflage überführt. Seit ein paar Wochen geht die Kunde, dass Joaquin Phoenix’ nicht gerade unpeinlich verlaufende Karriere als rauschebärtiger Möchtegern-Rapper nichts anderes ist als ein geschickt eingefädelter Fake, bloßes Material für eine von Casey Affleck gedrehte Mockumentary. Ähnliches wollen wir für Jared Leto hoffen.

Es kann also eigentlich nur mehr besser werden. Es muss auch einmal eine – eine kleine immerhin - Fahne (Eine rote? Eine schwarze?) für das Quartett Billy Talent gehisst werden. Auch wenn man mit derart gelagerter Musik eher wenig am Hut hat, kann man hören, man glaubt es kaum, dass das tatsächlich gar nicht so schlecht ist, was die Band aus Ontario, Kanada da im Fahrwasser von Post-Hardcore zusammenklopft. Fugazi schimmert als eine ausgewiesene Lieblingsband durch, übersteuert in Richtung Screamo und mitsingbares Pop-Moment. Das erste, 2003 erschienene Album von Billy Talent war relativ gut, vor allem aber entfaltet die Band live, ja: Energie. Nicht mehr. Die Stücke heißen „Try Honesty“, „Rusted from the Rain“ , „Fallen Leaves“ und natürlich, als Abschluss, der Hit „Red Flag“. Auch die humoristische Interaktion mit dem Publikum scheint Sänger Ben Kowalewicz glaubhaft Spaß zu machen: „Jared Leto is a dreamboat. A hot piece of ass.“ Da will man der Band gar nicht mehr übel nehmen, dass der ganze Revolutions-Habitus nur wie eine bloße hohle Geste wirkt.

In Jürgen Teipels immer wieder lesenswertem, aus Original-Tönen von ehemaligen Protagonisten zusammencollagiertem Buch „Verschwende Deine Jugend“ über deutschen Punk und New Wave der 80er-Jahre wird Campino mit einem etwas despektierlichen Spruch über damalige Punker-Kollegen zitiert, die, obwohl höhere Söhne aus besserem Hause, quasi in der Pissrinne des Düsseldorfer Clubs Ratinger Hof - seinerzeit Deutschlands Punk-Epizentrum - die Oberasseln darstellten: „Die haben sich aufgeführt, als ob sie die Einzigen aus der Arbeiterklasse wären. Dabei hatten die gar nichts damit zu tun. Ich habe das wenigstens nie versucht zu verwischen.“

Ein Hauptproblem mit den Toten Hosen ist, dass man sich da und dort des Eindrucks nicht erwehren kann, dass sie – Campino immerhin – ihr Publikum mitunter ein kleines bisschen verarschen. Da erscheint Campino im Feuilleton, rechtfertigt sich weltmännisch-intellektuell für seine doofen Texte und findet im Theater Einzug in die Hochkultur, nur um dann im Kerngeschäft mit den simpelsten Durchhalte-Parolen und Kalenderblatt-Lyrik zu Schunkel-Rhythmus und Oh-Oh-Oh-Chören zu versuchen, ein höchstmögliches Wir-Gefühl zu erzeugen. Dass sich daran sehr, sehr viele Leute erfreuen, ist nichts Falsches, bloß, dass Campino - je nach Anlass – wahlweise den Mann im Volke oder den zynischen Analytiker gibt, das riecht komisch.

Man muss den Toten Hosen nicht besonders übel nehmen, dass sie sich bewusst dazu entschlossen haben, Punk ins Bierzelt und dann ins Stadion zu tragen, Campino ist sicherlich ein ganz netter und schlauer Typ, immer noch dick mit Schorsch Kamerun und Ted Gaier und, wie man so hört, stecken die Hosen auch einiges von ihrem erwirtschafteten Geld in ehrenwerte Projekte – allein, was nutzt das alles, wenn man so eine beknackte Musik macht, die „Punk“ eben nicht mehr als Haltung begreift – das Mindeste, die dann doch immer wieder explizit vorgebrachte Abgrenzung gegenüber Rechts, mal ausgenommen - sondern als formelhaftes stumpfes Geholze, mit Humor zwar, ja, ja, die eine oder andere Ballade da oder dort, und als die Tatsache, dass man da bunte Haare hat? Wie ein Konzert von den Toten Hosen abläuft, das hat jede und jeder schon einmal im Fernsehen oder in den Träumen gesehen. Die Stücke heißen „Strom“, „Bis zum bitteren Ende“; „Wünsch Dir Was“, „Alles wird vorüber gehen“ und „Sascha“. In der Fähigkeit zur Kommunikation mit dem Publikum liegt dann also natürlich aber auch wieder die, wenn man so will, große Kunst des Campino, er ist Gebieter über die Schwerkraft: "Das ist das 10. Frequency, das ist unser 50. Konzert in Österreich, es gibt also genügend Grund zu feiern und volle Kanne einen durchzuziehen.“ und: „Seid Ihr bereit für eine lange, dreckige Nacht?“ Selbstredend sind die Leute. Zu den erwarteten Chaos-Tagen kommt es nicht, eher Party-Tage, passend dazu spielen die Toten Hosen "Hang On Sloopy" und gegen Ende des Konzerts gibt's "Zehn Kleine Jägermeister": "Einer Für Alle/ Alle Für Einen." Nach diesem Motto funktioniert ein Hosen-Konzert, Campino zieht diabolisch die Augenbraue hoch.

Man könnte nach den Sternen greifen und sich wünschen, dass nach zwei Festival-Tagen mit sauber durchmischtem Programm das Booking am letzten Tag nicht so sehr in Richtung Stadionrock aus dem Ruder läuft. Das Nova Rock gibt es schon.