Erstellt am: 8. 7. 2009 - 14:53 Uhr
Frust-Tagebuch: Die Radhölle an der Saale
Bisher im Frust-Tagebuch
Ich wohne in einem Krisengebiet, das sollte aus meinen letzten Beiträgen hier klar geworden sein. Besonders hart trifft diese Krise die Radfahrer. Vor allem die, die sich - Wahnsinn! - in die Große Ulrichstraße verirren. Wenn Hallenser von der "Großen Uli" sprechen, dann - je nachdem, ob sie ein Auto besitzen und benutzen oder nicht - entweder mit höhnischem Hohn in der Stimme, oder sehr, sehr viel Furcht. Hohn und Horror, in dieser Straße wohne ich.
Die Große Ulrichstraße ist eine mediumaktive Einkaufsstraße mit Wohnmöglichkeiten. Hier gibt es das Neue Theater, den sagenumwobenen Wurst&Bananen-Edeka, von hier kommt man in die alles-vereinende Große Steinstraße, zur Uni, zum parallel gezogenen Kneipenmeilchen Kleine Ulrichstraße. In der Großen Ulrichstraße geht man ins Fortuna, ins 36 und zum neuen Vollkorn-Bäcker. Hier lungern am Wochenende Vorstadtkids vor dem McDonalds, kippen den Mülleimer vor unserem Haus um oder pinkeln in den Hauseingang.
@knoke
Dieses halbgare Halbidyll einer Zentrumsstraße wird durchbrochen von den Schwüngen, die diese Straße macht - wuschiwisch, schwuschischwasch - gehen die Autos, die hier nicht fahren dürfen, die Bahn, die hier fahren darf und die vielen Radfahrer, die hier fahren müssen, hin und her, wuschiwisch und schwuschiwasch.
Bis sie von den Straßenbahnschienen gefressen werden, vornüberstürzen, sich Knochen brechen, Häute schürfen und Zähne stoßen. Mütter mit ihren Kindern fliegen haushoch durch die Luft, schlagen letzte Salti mortale, bevor sie auf die anderen Unglücksfahrer fallen. Hier ein Hund, da ein Schwan, der von der Welle des Schmerzes gepackt, laut aufheult. Der Straßenbahnfahrer derweil mit stoischer Miene - er kennt den Schmerz der anderen wie seinen eigenen - klingelt, wie er klingeln kann, der Autofahrer wütend - er kennt ja nur den Hohn - hupt und wendet; darf hier ja eh nicht fahren.
Mein Freund Matthias kennt das Leid, mit seinem Mountainbike ("und nicht irgendeins!") erlebte er schon selbst brenzlige Situationen zwischen Betonplatten, Lochfelgen und dem eigenen, kochenden Blut. "Die Schienen kommen von links, rechts ist kein Gehweg mehr ... eigentlich musst Du Reißaus nehmen, sonst überfährt dich die Trambahn!" Nur weil er "immer gefährlich" lebe, fahre er gern in Halle mit dem Rad: "Das ist ein urban enduro." Es gebe keine andere Stadt, "wo es sich so lohnt wie in Halle mit dem Mountainbike zu fahren. Weil hier ist alles Piste."
@knoke
Die Radhölle an der Saale ist ein Lokalpolitikum. Die örtlichen Jungliberalen nahmen das Problem für eine süße Straßenmalaktion zum Anlass, um "auf den Unfallschwerpunkt Große Ulrichstraße aufmerksam machen. Aufgrund des schlechten Fahrbahnzustandes kommen hier täglich zahlreiche Fahrradfahrer zu Sturz und tragen teilweise nicht unerhebliche Verletzungen davon."
Aus meiner persönlichen Perspektive - Balkon - stellt sich das Problem ähnlich dar. Von hier oben sieht die Welt ja gut aus, aber ziemlich kacke von da unten. Wie gierige Münder schließen sich die handkantentiefen Schienenspalten um die Fahrradreifen und so weiter und so fort. Dazu rasen die Straßenbahnen unerhört leise (als Anwohner bin ich dankbar, als Mensch erschüttert) von hinter den Kurven an; Bremsen kennen sie nicht. Dazu kommen all die unvernünftig schnell fahrenden Autos, die sich trotz uneindeutiger Ausschilderung nicht mal an die Genfer Konventionen halten und umzumähen drohen, was die Straße kreuzt oder von der Straße aufs Kreuz gelegt wurde.
@knoke
Das gilt auch für die Polizei- und Notarzteinsätze, die über die Große Uli gefahren werden. Mit unsachlicher Geschwindigkeit und lautem Tatü sind sie qualmende Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für sich selbst. Und wenn mal ein verrückt gewordener Autofahrer (Kennzeichen HAL-S*-*2*, ich schau dich an!) mal wieder den Motor heulen und die Reifen quietschen lässt, dann schaut die Polizei nur müde hinter her und winkt die Hand vorm Gesicht. Alles so gesehen, von meinem Balkon aus.
Angesichts der Todesgefahr, die von meiner Straße ausgeht, frage ich mich auch nicht mehr, wie ich das noch zum Hinzug getan habe, warum sich ein Fahrradladen weiter oben an der Straße tatsächlich Fahrradies nennt.