Erstellt am: 27. 4. 2009 - 12:02 Uhr
Provinzfrust-Tagebuch: Rote Haare
Bisher im Frust-Tagebuch
Vorweg: Im Oktober 2008 zogen meine Freundin und ich von Hamburg nach Halle (Saale). Sie wollte hier studieren, ich arbeiten, gemeinsam wollten wir eine neue Stadt erforschen, neue Freunde finden und viele Abenteuer erleben. Dann packte uns der Provinzfrust. Davon handelt dieses Frusttagebuch. Was es können soll und was nicht, erklärt der Beipackzettel .
Es war das "Sei klug, studier in Halle"-Werbeplakat, das meine Freundin Johanna und damit auch mich nach Halle brachte. Dieses Plakat hing in zehn deutschen Städten an 2.700 Litfasssäulen, flankiert von Anzeigen in bundesweiten Schülermagazinen, versuchte angehende Studenten mit guten Argumenten in die Ostprovinz zu locken: Zehn gute Gründe, warum Du an der Uni Halle richtig bist. Die Botschaft präsentierte ein Mädchen mit wallend, knallend rotem Haar, das naiv-neugierig in den Himmel schaut, mit elfengleicher, weißer Haut. Ihren Kopf spaltet die Werbezeile: "Sei klug, studier in Halle !". Ist sie nackt?
www.studier-in-halle.de
Rote Haare spielten im Winter noch eine wichtige Rolle im Hallenser Stadtbild. Ich höre noch meine Freundin sagen, als wir zum ersten Mal in einem Straßencafé in Halle saßen: "Felix, die haben alle rote Haare!" Und es stimmte: In Halle trug frau gern rotes Haar. Rote Strähnen, rote Zöpfe, rote Fransen, rote Stirnfransen, bleichrosa Blässe auf kaputtgefärbtem Stroh, knallpinke Akzente, hyperlila Strudel. "Es gibt keine Erklärung dafür," meint mein Halle-Freund P. Für Johanna, die gegen die Haarfarbe Rot tiefe Zweifel hegt und auch ein eher grundsätzliches persönliches Problem mit Frisören hat, brechen tortouröse Zeiten an. Sie hielt fest: "Wir unterscheiden grundsätzlich zwischen Mann und Frau, ab 20 geht's ans Kinder machen und am liebsten mögen wir die Haare rot-schwarz gefleckt."
Auf die mit dem roten Haar scheinbar einhergehenden ebenso konkreten Vorstellungen über das Leben nach der Schule - Schnell Kinder kriegen! - muss ich wann anders eingehen. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass die Straßen tatsächlich gefüllt waren mit jungen und jüngsten Müttern, seltener auch Pärchen mit bunten Versuchen, das Dauerthema "Rotes Haar" kreativ weiterzuspinnen. Waren - denn irgendetwas ist passiert: Jetzt heißt das Motto plötzlich Schwarz-Blond-Hinten-Vorne, Oben-Unten-Frisur. Linke Hälfte schwarz, rechte blond gefärbt, weißer Ansatz und schwarze Enden, gern auch andersrum und immer wieder: Blondes Zickzack auf schwarzem Schulterlang-Schnitt. Mir fehlt die Frisurenerfahrung (Glatzenbildung...), um das besser beschreiben zu können. Fotos traute ich mich keine zu machen. Aber wenn man zum Beispiel hier weiter unten reinschaut, kriegt man eine ungefähre Vorstellung vom Vorher-Nachher. Ist ja auch um Neujahr aufgenommen worden ... Abschließend sei aber gesagt: In den letzten Tagen fielen uns vermehrt Jungs mit roten Haaren auf. Es geht also weiter...
Zurück zum Plakat. Die roten Haare darauf hätten mir schon früher auffallen müssen. Tatsächlich fiel mir aber bei meiner ersten Ankunft in Halle auf, was einige Kunststudenten zu den "Sei klug"-Plakaten zu sagen haben. Die mussten/durften eigene Versionen der Plakate entwerfen, nahmen die Aufgabe ernst und völlig unironisch und konterten am Hallenser Ribeck-Platz mit Plakaten, die Neu-Hallenser zeigten, wie sie leiben und leben.
www.uni-halle.de
Zu sehen: Menschen ohne rotes Haar, bis auf zwei Ausnahmen aus Westdeutschland - natürlich. Viel eindrucksvoller war für mich aber das erste Gefühl: Diese Plakate, so roh und ungeschönt, zeigen, wie es wirklich(er) ist, in Halle zu leben. Das Plakat, das ich als erstes sah, zeigte ein etwas gequält lächelndes Mädchen. Den Frust, den ich in diesem Moment in ihren Augen zu erkennen glaubte, seh' ich heute nicht mehr. Aber das liegt vielleicht auch daran, dass ich längst lange genug hier lebe, um jede auch nur kleinste Regung von Nicht-Unglück als Freude interpretieren zu können (dürfen/müssen/wollen). Ich vermute, das ist eine Art Stockholm-Syndrom.
Zurück zu den Haaren. An denen herbeigezogen wirken auch einige der guten Argumente, mit denen die Uni Halle in ihrer "Sei klug"-Kampagne warb. Man gab sich offensichtlich Mühe, Argumente zu finden. Ein wenig Ironie hätte nicht geschadet, siehe die charmant ehrfürchtige Halle-Bezeichnung "Graue Diva". Das traut sich die Uni nicht, sondern wirbt mit: Billig wohnen, neue Unigebäude, Traditionsuni, Lippenstift-verschmierte Kaffeetassen, "Bier, Bett und Bibliothek um die Ecke".
Wenigstens Punkt Zehn macht Spaß: "Du willst schnell hin und weg sein." Ja, keine Frage!
Das nächste Mal: Junge Mütter und Whiskey-Verbot für meine Freundin.