Erstellt am: 8. 6. 2009 - 10:53 Uhr
Frust-Tagebuch: Hölle an der Saale
Bisher im Frust-Tagebuch
Vorweg: Letztes Jahr zogen meine Freundin und ich von Hamburg nach Halle. Sie wollte hier studieren, ich arbeiten, gemeinsam wollten wir eine neue Stadt erforschen, neue Freunde finden und viele Abenteuer erleben. Dann packte uns der Provinzfrust. Davon handelt dieses Frusttagebuch. Was es können soll und was nicht, erklärt der Beipackzettel.
Diese Stadt nicht zu mögen ist ein Regionalsport. Meine paar Einträge in dieses Frust-Tagebuch führten zu einer Art Babyshower der Mitfühler und Ablehner: Die einen verwiesen auf andere Lästerer, die das viel besser (und fairer, jaja) könnten, die anderen schickten Links mit reichlich Lästerstoff. Etwa Ralf, der auf den vergeblich optimistischen Lonely-Planet-Eintrag über Halle verwies oder Markus, der einst schon selbst von der Bild-Zeitung über Halles mörderische Straßenbahnen befragt wurde.
Besonders ergiebig waren aber die Hinweise von G., dem Ethnologen und zeitweise begeisterten Zeit-Hallenser. Der zeigte mir nicht nur seine Lieblingsecken - über unsere tolle Tour durchs Plattenbaugelände Halle Neustadt muss ich noch unbedingt eine Foto-Geschichte bauen- sondern rückte auch gleich eine ganze Kiste voller Halle-Links und -Literatur heraus. Die allesamt lesenswerten Texte heißen zum Beispiel Die Ostdeutschen als Avantgarde (Wolfgang Engler), Labor Ostdeutschland (Ina Merkel) und Where the World Ended (Daphne Berdahl). G. erinnerte an eine Geschichte des Time Magazine, die der Frage nach geht, What Germany Got for Its $2 Trillion und schiebt dann noch den Tipp hinterher, mal nach "Hölle an der Saale" zu suchen.
Gesagt getan, landete ich auf diesem Platzhalter:
@hoelle-saale.de
Per Way Back Machine aber öffnete sich der Hort des Frusts, die Krypta der schlechten Laune, die, äh, Basilika der Abwanderung. Mit Hölle an der Saale hinterließen einige frustrierte Hallenser verbrannte Erde und versuchten sich an einer Sammlung aller schlechten Dinge Halles. Unmögliche Dialektwörter, schlechte Nachrichten aus der Umgebung, Negativstatistiken. Und ganz wichtig: Einen Countdown, der die Zeit misst, die der Stadt Halle noch bis zum Untergang verbleibt. Gemessen am Einwohnerschwund, circa 21.500 Tage.
@hoelle-saale.de
Die Seite ist ein großer Spaß zu lesen, die Geschichte, die zu ihrer Schließung führte, aber auch: Eine Stadtverwaltung, die keinen Spaß versteht und direkt beim Provider interveniert.
Was ich auf Hoelle-Saale.de dann aber nur ganz zufällig gefunden habe, ließ mein Soziologenherz hell aufschlagen: Der Hallesche Graureiher. Das sind die gesammelten Forschungsberichte des Hallenser Instituts für Soziologie - und es geht vorwiegend um Halle: Bürgerumfragen, Außenwirkung, Gewaltkriminalität & politische Färbung der Landesregierung.
Wer sich einen Überblick über die Stadt, ihre Probleme und das Selbstbild der Bewohner machen will, wird hier - empirisch solide - fündig. Das ist harter Stoff.
Ich geh jetzt erstmal zur Doppelwahl in einer Hallenser Grundschule: Wahl zum Europäischen Parlament und Wahl des Stadtrates. Was mich daran erinnert, noch mit F. ein Interview zu führen. Der trat mal als Bürgermeisterkandidat in Halle an, scheiterte natürlich.