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Chrissi WilkensAthen

Journalistin in Griechenland

26. 12. 2015 - 11:58

#rewind2015: Drama ohne Ende

Griechenland stand das ganze Jahr über im Zentrum des Geschehens: zwei Parlamentswahlen, ein Referendum, drohender Grexit, Massenankünfte von Flüchtlingen und Hotspots. Und noch immer ist kein Ende des Dramas in Sicht.

Rewind 2015

Der FM4 Jahresrückblick

Als vor einem Jahr, im Dezember 2014, nach einer gescheiterten Präsidentenwahl das griechische Parlament aufgelöst werden musste und Neuwahlen ausgerufen wurden, war eines klar: Das Ende der Amtszeit des konservativen Regierungsministers Antonis Samaras hatte begonnen. Es ist die Stunde der Linken. In Umfragen lag das Linksbündnis Syriza von Alexis Tsipras vorne.

Die Wahlen am 25. Jänner gewinnt Syriza dann mit mehr als 36 Prozent und dem Motto "Die Hoffnung kommt". Tsipras hatte ein Ende der harten Sparpolitik und das Streichen der Schulden versprochen. Schon wenige Stunden nach den Wahlen bildet Syriza eine Regierungskoalition mit der rechten Partei Unabhängiger Griechen (ANEL), die auch eine klare Haltung gegenüber den von den Gläubigern durchgesetzten Sparkurs gezeigt hatte. Die neue Regierung stürzt sich sofort in einen Verhandlungsmarathon mit den Gläubigern - so präsentiert man das zumindest den BürgerInnen.

Varoufakis

AFP

Zentrale Figur bei den Verhandlungen: Finanzminister Gianis Varoufakis, ein international anerkannter Wirtschaftsprofessor und Blogger, der jetzt eine eigene Partei gründen will. In Athen und anderen Städten Griechenlands finden erste Kundgebungen für die Regierung statt. Das Motto lautet: "Wir lassen uns nicht erpressen, wir haben keine Angst". An den Protesten nehmen sogar Menschen teil, die die Regierungsparteien nicht gewählt haben, um Tsipras und Varoufakis den Rücken zu stärken. Im Inland und im Ausland redet man bereits über das Szenario einer sogenannten "linken Parenthese", also einer kurzen katastrophalen Amtszeit der Linken, die wieder die Konservativen an die Macht bringen wird. Aus Angst vor den Folgen eines Scheiterns der Verhandlungen und der Einführung von Kapitalverkehrskontrollen beginnen die GriechInnen, ihr Geld von den Banken abzuheben.

Ende Februar läuft das zweite Hilfsprogramm aus, das im Dezember 2014 wegen der anstehenden Wahlen um zwei Monate verlängert worden ist. Ab 1. März ist Griechenland auf neue Hilfe angewiesen, es droht die Staatspleite. Die Debatte um einen Rauswurf Griechenlands aus der Eurozone wird immer lauter und Athen zeigt sich bereit, 70 Prozent der bisherigen Reformverpflichtungen zu erfüllen. Den Rest will man mit Reformen gleicher Wirkung ersetzen. Als "rote Linie" gelten dabei die Arbeitnehmerrechte, die Privatisierungen und die Höhe des Primärüberschusses.

Viele Griechen, die anfangs enthusiastisch über Tsipras Sieg waren, bemerken, dass unter dem Druck der EU-Partner die Regierung langsam von ihren Wahlversprechen, einem Streichen der Schulden und dem Ende der Sparpolitik, abweicht. "Die Eurozone ist jetzt wie ein Gefängnis für uns. Das Einzige, was wir erhoffen können, ist, dass sie in diesem 'Gefängnis' volksfreundliche Maßnahmen umsetzen werden", sagt eine Demonstrantin.

Wochenlang laufen die Verhandlungen und auch die Debatte über Reparationsforderungen belastet die deutsch-griechischen Beziehungen. Ganz Europa hält den Atem an. Eigentlich wird erwartet, dass Griechenland und die Gläubiger sich auf einen Kompromiss einigen, doch am 26. Juni kündigt Premier Tsipras überraschend ein Referendum an. Die Griechen selbst sollen über die von den Geldgebern verlangten Maßnahmen abstimmen. Es ist das erste Mal nach dem Ende der Militärdiktatur vor vierzig Jahren, dass die Griechen zu einem Referendum aufgerufen werden.

Griechischer Premier Alexis Tsipras

APA/AFP/THIERRY CHARLIER

Die Griechenlandkrise verschärft sich dramatisch: Die Euro-Gruppe lehnt die Verlängerung des für den 30. Juni fälligen Hilfsprogramms für Athen ab. Um darüber hinaus Kredite bedienen zu können, ist die griechische Regierung auf die Unterstützung der Europäischen Zentralbank angewiesen. Wieder schwebt das Gespenst des Grexits in die Luft. Europäische Politiker sprechen bereits offen über einen Plan B, die Banken schließen und es werden Bankenkontrollen eingeführt. EU-Politiker lassen wissen, dass die GriechInnen in diesem Referendum eigentlich über ihren Verbleib in der Eurozone entscheiden. Mehrere Massenmedien beschwören den Untergang des Landes herbei.

Trotz dieser Stimmung lehnen mehr als sechzig Prozent der Griechen beim Referendum am 5. Juli die Sparmaßnahmen ab. Gleichzeitig ist aber die Mehrheit der Griechen laut Umfragen für einen Verbleib in der Eurozone. Die euphorische Stimmung nach dem Referendum hält nicht lange an. Schon nach einer Woche, am 13. Juli, kommt es zu einem Abkommen mit den Gläubigern. Insgesamt sollen Griechenland in den nächsten drei Jahren weitere Finanzhilfen in Höhe von bis zu 86 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden. Die Tsipras-Regierung hat dafür unter anderem einer Mehrwertsteuerhöhung, Änderungen im Rentensystem, aber auch der Privatisierung von staatlichem Besitz im Wert von mindestens fünfzig Milliarden Euro zugestimmt.

Mitte August stimmen 222 Abgeordnete des Parlaments für die neuen Hilfen im Gegenzug für strikte Sparmaßnahmen, trotz der deutlichen Ablehnung beim Referendum. Bei der Abstimmung gibt es mehrere Abweichler innerhalb der Syriza-Partei. All das führt zu Neuwahlen am 20. September. Syriza spaltet sich. Abweichler bilden eine neue linke Partei mit den Namen Laiki Enotita (auf Deutsch:Volkseinheit).

Die Wirtschaftslage ist weiterhin dramatisch. Anfang August erlebt die Athener Börse die heftigsten Kursverluste seit dem Jahr 1957. Gleichzeitig ist das knapp vor der Pleite stehende Griechenland mit den Massenankünften von Flüchtlingen und Migranten überfordert. Einheimische versuchen, ihnen gemeinsam mit humanitären Organisationen zu helfen. Die Mehrheit der Flüchtlinge verlässt Griechenland über einen inoffiziellen Flüchtlingsübergang an der griechisch-mazedonischen Grenze.

Flüchtlinge an der griechisch-mazedonischen Grenze

Chrissi Wilkens

Tsipras gewinnt die Wahlen am 20. September und bildet erneut eine Regierung mit der rechten Partei ANEL. Die Griechen entscheiden, dass der 40-jährige Politiker das mit den Gläubigern unterschriebene Abkommen umsetzen soll. Allerdings bei einer historisch hohen Wahlenthaltung von 45 Prozent. Besorgniserregend: Die Neonazi-Partei Chrysi Avgi bleibt mit knapp sieben Prozent weiterhin drittstärkste Kraft im griechischen Parlament.

Mittlerweile spitzt sich die Flüchtlingskrise zu. Im Oktober beginnt auf Lesbos die Pilotphase des ersten sogenannten Hotspots in Griechenland. Die Behörden und Hilfsorganisationen sind weiterhin überfordert und die Zustände dort gleichen einem Kriegsgebiet. Fast täglich gibt es Bootsunglücke in der gefährlichen Überfahrt über die Ägäis. Allein im September und Oktober sind 300 Schutzsuchende ums Leben gekommen.

Die griechische Gesellschaft schaut den Entwicklungen fast resignierend zu. Am 12. November findet der erste Generalstreik statt, seitdem Tsipras an der Macht ist. Sogar aus der Regierungspartei werden die BürgerInnen zum Protest aufgerufen. "Wir sind Opfer unseres eigenen Erfolgs", sagte der griechische Finanzminister Eukleid Tsakalotos vor ein paar Tagen hinsichtlich der umstrittenen Rekapitalisierung der griechischen Banken.

Die Wut gegen Tsipras‘ Regierung wächst. Die aktuellen Statistiken über die soziale Lage der GriechInnen sind schockierend. Jede/r Dritte lebt in Armut oder ist von Arbeitslosigkeit bedroht. In einer Studie des Meinungsforschungsinstutus GPO zeigen 44 Prozent der Befragten negative Gefühle wie Unsicherheit, Angst, Wut, Verzweiflung oder Stress. Bei einer anderen aktuellen Umfrage sind 86 Prozent vom Kurs des Landes enttäuscht. Das Vertrauen in das Parlament, das noch im März bei ohnehin mageren 27 Prozent lag, ist auf 6 Prozent gesunken. Gleichzeitig wächst - vor allem bei den Jüngeren - das Vertrauen in die Armee rasant. Von 38 Prozent im Juni auf 65 im November.

Der griechische Finanzminister Euclid Tsakalotos und Premier Alexis Tsipras

APA/AFP/ANGELOS TZORTZINIS

Der griechische Finanzminister Eukleid Tsakalotos und Alexis Tsipras

Mitte Dezember wird die griechische Regierung von den Gläubigern dazu gezwungen, das sogenannte parallele Programm, das auf die Entlastung der Sparpolitik für ärmere Griechen zielte, aufzugeben. Dies ist eine weitere Niederlage für die linksgerichtete Regierung. Tsipras‘ Stern scheint zu sinken.

In Athen und im Ausland spricht man immer wieder von der Bildung einer Regierung der Nationalen Einheit, tatsächlich schrumpft die parlamentarische Mehrheit der Koalition auf 153 der 300 Parlamentsmandate. Tsipras hat noch schwierige Abstimmungen vor sich. Die Regierung bröckelt.

Doch einen richtigen Rivalen hat Tsipras nicht. Bei der konservativen Partei Nea Demokratia, die jahrelang an der Macht war, sucht man nach dem Wahlfiasko im November nach neuen Vorsitzenden. Am 10. Jänner, in der zweiten Runde, sollen die konservativen Wähler entscheiden, ob Kyriakos Mitsotakis aus dem Mitsotakis-Clan, oder Evangelos Meimarakis - ebenfalls aus einer Politikerdynastie - die Partei führt.

Insgesamt scheinen die Griechen jedoch die politischen Parteien satt zu haben, auch die Linke. Bei einer aktuellen Umfrage liegt Syriza mit 20 Prozent gerade mal einen Prozentpunkt vor den Konservativen, die 19 Prozent erreichen. Bei einer anderen Umfrage, die am Weihnachtstag veröffentlich worden ist, weigert sich mehr als 40 Prozent Sympathie für irgendeine Partei zu äußern.

"Ein politischer Big Bang ist nicht mehr weit entfernt", kommentierte die konservative Kathimerini. "Das 'Monster' [Krise] frisst weiterhin unersättlich Politiker, Parteien, Ministerpräsidenten und alles andere, was vor ihm steht. Niemand kommt ungeschoren davon."

Auch die Flüchtlingskrise spitzt sich wieder zu. Nachdem die Grenzen zwischen Mazedonien und Griechenland am 19. November für alle Schutzsuchende geschlossen wurden außer diejenigen, die aus Syrien, Afghanistan und dem Irak stammen, befinden sich tausende Flüchtlinge und Migranten in einer Sackgasse.

Demo in Athen: Flüchtlinge fordern, dass die Grenzen wieder geöffnet werden

APA/AFP/LOUISA GOULIAMAKI

Demo in Athen: Flüchtlinge fordern, dass die Grenzen wieder geöffnet werden.