Erstellt am: 29. 10. 2015 - 17:03 Uhr
Hotspot Fehlanzeige
"Sieben Tage warte ich hier mit meiner Familie um registriert zu werden. Ich bin voll nass. Vom Kopf bis zu den Füßen", sagt Neri, ein 18-jähriger aus Afghanistan.
Es ist vormittags vor dem Registrierungszentrum Moria auf Lesbos, dem ersten sogenannten Hotspot in Griechenland, einem Konzept, von dem sich die EU viel erhofft. Ziel sei es, die Flüchtlinge gleich an der EU-Außengrenze aufzunehmen und dann in andere EU-Länder zu verteilen. Doch ob und unter welchen Umständen das möglich sein wird, ist fraglich, schon wegen der großen Zahl der Ankünfte.
Radio FM4
Auf Lesbos sind seit Anfang des Jahres mehr als 250.000 Flüchtlinge gestrandet, hauptsächlich aus Syrien und Afghanistan. Trotz der schlechten Wetterbedingungen kommen auch jetzt täglich bis zu 7.000 Flüchtlinge dort an. Und fast täglich gibt es Bootsunglücke mit mehreren Toten und Vermissten, wie zuletzt am Mittwoch. Wer die gefährliche Reise durch die Ägäis überlebt, ist mit skandalösen Bedingungen im Hotspot konfrontiert. Auf dem Gelände der ehemaligen Kaserne in Moria findet man viele Kinder, Schwangere, ältere Menschen, Kriegsverletzte, Behinderte, die in der Kälte und Nässe ausharren. Es wird ihnen weder ein menschenwürdige Unterkunft noch eine rudimentäre staatlich organisierte Versorgung angeboten.
Chrissi Wilkens
Zusammen mit dem 18-jährigen Neri warten in der Schlange dutzende weitere Flüchtlinge im Regen. Mehrere von ihnen sind in goldfarbene Rettungsdecken oder schwarze Mülltüten eingewickelt, um sich vor der Kälte zu schützen. In der Schlange warten auch Familien. Babies husten erschöpft. Ein Beamter der europäischen Grenzschutzagentur Frontex steht vor der Registrierungsstelle und fordert die Menge auf, Familien den Vorrang zu geben. Immer wieder gibt es Gedränge. Die Flüchtlinge, die tagelang in der Schlange anstehen, sind oft mit der Gewalt der Spezialeinheiten der Polizei konfrontiert, die seit Monaten vor den Eingängen präsent sind.
Auch Neri hat diese Erfahrung gemacht. "Manchmal stehen mehr als 1000 Menschen in der Schlange", sagt er frustriert. "Ich konnte keine einzige Nacht einschlafen, weil ich Angst hatte meine Reihe zu verlieren." Ein 40-jähriger Flüchtling aus dem Irak hält in seinen Händen einen nassen Zettel mit einer Nummer und verlangt weinend von den Polizisten ihm durchzulassen. Ein paar Meter weiter versucht Dimitris Amoutzias, stellvertretender Leiter von Moria, telefonisch einen Arzt zu erreichen. Ein unterkühlter Flüchtling muss dringend behandelt werden. Nach wie vor reicht das Personal nicht aus, um mit der großen Anzahl von Flüchtlingen zu Recht zu kommen und sie schnell zu registrieren, betont er. Und das, obwohl zusätzlich mehr als 100 Personen gekommen sind um das Registrierungsverfahren zu beschleunigen.
Alle bisherigen Erwartungen der Behörden, dass sich die Ankünfte verringern werden, haben sich nicht bestätigt. "Auch gestern - obwohl es sehr kalt war und geregnet hat - sind viele Flüchtlinge angekommen. Es sind Zahlen, mit denen wir nicht gerechnet haben. Niemand kann eine sicherere Prognose machen", so Amoutzias.
Da die staatliche Essenversorgung seit eineinhalb Monaten eingestellt ist, werden die Flüchtlinge nicht innerhalb des Lagers untergebracht, sondern müssen außerhalb in Zelten, Containern oder Notunterkünften ausharren. Manche sogar in Getränkekühlschränken.
Chrissi Wilkens
Im Lager selbst werden zurzeit nur unbegleitete Minderjährige untergebracht. Die NGO Save the Children verteilt täglich eine Mahlzeit an die Schutzsuchenden, die darauf warten registriert zu werden. Doch das reicht nicht aus. Diejenigen die es sich leisten können kaufen Lebensmitteln von den Kantinen, die sich vor dem Lager aufgebaut haben, und oft zu überteuerten Preisen ihre Produkte verkaufen. Die anderen hungern oder hoffen auf die Solidarität von den NGOs.
Nach Schätzungen sind auf Lesbos etwa 80 NGOs und Hilfsorganisationen aktiv. Doch dies ändert nichts an der grundsätzlichen Situation auf Moria. Überall im Gelände sieht man Müll, Berge von nassen Kleidern und Schuhen im Schlamm und verwirrte Flüchtlinge. Als vorige Woche heftige Regenfälle ausgebrochen, erinnerte das Gelände schnell an eine Kriegszone.
Der Asylexperte und Europareferent der Organisation Pro Asyl, Karl Kopp, der gerade vor Ort ist, findet die Zustände in Moria schockierend. "Permanent kommen hochrangige Politiker aus Deutschland und der EU um sich das anzuschauen, und die Menschen stehen im Dreck, das ist die Realität. Wenn dies ein Hotspot ist, dann will man praktisch hier Dritte-Welt-Verhältnisse schaffen, um die Leute abzuschrecken. Das was uns in Europa verkauft wird, dass es auch mit Menschenwürde, mit Aufnahmeplätzen, zu tun hat, ist nicht vorhanden.“
Chrissi Wilkens
Ein paar Kilometer weiter im Rathaus der Inselhauptstadt Mytilene: Auch Bürgermeister Spyros Galinos ist sehr skeptisch, was den Hotspot in Moria angeht. Die Gemeinde versucht Unterkunftsplätze zu schaffen, unter anderem ein paar Kilometer weit von Moria in Ort Larsou. Dort sollen in ehemaligen Lagern und Büros bis zu 1500 Schutzsuchende untergebracht werden. Außerdem sollen die Hoteliers der Insel Bereitschaft zeigen im Winter Zimmer bereitzustellen, für Flüchtlinge die nach einen Hotelzimmer suchen, wie es im Sommer besonders bei syrischen Flüchtlingen oft der Fall war.
Bürgermeister Galinos glaubt, dass die Asylsuchenden am Besten schon in der Türkei registriert werden sollten, damit sie die gefährliche Fahrt über die Ägäis vermeiden und nicht auf die Schlepper angewiesen sind. Falls die Türkei sowas nicht akzeptiert, sollten vom Staat organisiert Schiffe die Flüchtlinge von der türkischen Küste abholen und sie auf die griechischen Inseln bringen, ohne dass sie ihr Leben in Gefahr bringen. "Die EU und die internationale Gemeinschaft müssen etwas unternehmen, um dieses Verbrechen zu stoppen. Dafür ist politischer Wille notwendig. Die Verwaltung der Flüchtlingsthematik darf nicht mehr in den Händen der Schlepper liegen", so Galinos.
Seit Anfang der Woche erfolgt die Registrierung nun durch Nummernverteilung - was im Zeitpunkt dieser Reportage nicht der Fall war. Durch diese neue Taktik haben sich zwar die Schlangen reduziert, die Lage bleibt aber weiterhin höchst problematisch. Insbesondere am Abend, wenn nicht ausreichend Personal von den NGOS und den Hilfsorganisationen präsent ist und nur wenige freiwillige Ärzte und Helfer die Flüchtlinge unterstützen können.