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Chrissi WilkensAthen

Journalistin in Griechenland

12. 11. 2015 - 15:27

Nichts mehr zu träumen

In Griechenland findet heute der erste Generalstreik statt, seitdem Alexis Tsipras und die linksgerichtete Syriza regieren. Sogar aus der Regierungspartei selbst werden die BürgerInnen zum Protest aufgerufen. Viele Menschen sind hoffnungslos.

“Die Menschen haben aufgehört, von der eigenen Zukunft und der ihrer Kinder zu träumen”, sagt Vasiliki eine 35 jährige Privatangestellte. Sie ist Mutter von zwei Kindern und arbeitet als Angestellte in einem privaten Unternehmen. Seit mehr als zwei Jahren bekommt sie ihren Lohn nicht rechtzeitig. Ihr Arbeitgeber beruft sich auf finanzielle Probleme, obwohl er mehrere Unternehmen besitzt, die relativ gut laufen. Oft kann Vasiliki die monatlichen Rechnungen nicht bezahlen und ihren Kindern keine neue Kleidung kaufen. “Heute müssen alle Bürger Griechenlands protestieren. Wir müssen wieder ein starkes Nein zu den neuen Sparmaßnahmen sagen! Sie betreffen vor allem die jungen Menschen, die sehen, dass sie keine Perspektive mehr in diesem Land haben”, sagt sie.

Aufruf zum Generalstreik

Chrissi Wilkens

Premierminister Alexis Tsipras, der im September zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres Parlamentswahlen gewonnen hat, und der bereits unter hohem Druck von den Gläubigern Griechenlands steht, ist zum ersten Mal mit dem Zorn der BürgerInnen konfrontiert. RentnerInnen, Landwirte, Seeleute, ÄrztInnen, SchülerInnen haben in den letzten Wochen schon mit kleineren Protesten aufgezeigt.

Knackpunkt Zwangsversteigerungen

Das Land muss enorm sparen, um 86 Milliarden Euro Finanzhilfe für die kommenden drei Jahre zu bekommen. Anfang der Woche wurde von der Eurogruppe kein grünes Licht für die Auszahlung der Kreditrate von zwei Milliarden Euro gegeben. Der größte Haken bei den Verhandlungen ist die Zwangsversteigerung von Wohnungen - auch von Erstwohnsitzen - von SchuldnerInnen. Die Verhandlungen sollen bis spätestens Montag beendet sein, damit die Kreditrate freigegeben werden kann. Zusätzlich sollen 10 Milliarden Euro für die Rekapitalisierung griechischer Banken freigesetzt werden.

Bei den einfachen BürgerInnen wächst die Wut gegen Tsipras‘ Regierung, der einst bei den Demonstrationen mit ihnen marschiert ist. „Ich bin sehr verärgert, weil seitdem Tsipras eingelenkt hat und dem Sparkurs folgt, tut er so, als ob es keine Alternative gibt! Es muss aber eine Alternative geben, um dieses Land tatsächlich retten zu können“, sagt eine 43 jährige arbeitslose Frau verzweifelt.

Menschen sitzen vor Bushaltestelle

APA/AFP/SAKIS MITROLIDIS

Vor einer wegen des Streiks geschlossenen Bankfiliale

Von BeamtInnen im Öffentlichen Verkehr bis hin zum Krankenhauspersonal haben sich mehrere Berufsgruppen heute entschieden, die Arbeit niederzulegen, als Protest gegen die Umsetzung der umstrittenen Auflagen für das dritte Kreditprogramm, die von den Gläubigern verlangt werden. Das Paradox: Sogar die linke Regierungspartei Syriza ruft die Bürger zur Teilnahme auf. „Heute, in der Mitte der Verhandlungen, sind die Forderungen der Arbeitnehmer und insgesamt die Mobilisierung der Arbeiter von besonderer Bedeutung, und sie sollten gegen die neoliberale Politik und Erpressungen vonseiten wirtschaftlicher und politischer Akteure in Griechenland und im Ausland, verwendet werden", hieß es unter anderem in einem Aufruf der Abteilung Arbeitsmarktpolitik der Partei.

Stimmung am Boden

Nikos , der Besitzer eines Secondhand-Ladens hat heute aus Protest den Laden geschlossen , sieht jedoch kein Licht am Ende des Tunnels. ”Die Politiker die wir gewählt haben, sind daran gescheitert, Lösungen für die wichtigsten Probleme zu finden: Wirtschaft und Masseneinwanderung von Flüchtlingen und Migranten. Ich weiß nicht was für eine Lösung wir finden können”, sagt er. Obwohl die Stimmung unter den BürgerInnen am Boden liegt, hoffen die GewerkschafterInnen, auf eine hohe Teilnahme. Sie wissen, dass es ein harter Kampf ist, weil viele Menschen enttäuscht sind und resigniert haben. „Die Angestellten und viele Bürger, die der linken Partei Syriza vertraut haben, fühlen sich jetzt verraten und sind verletzt. Wir sind verpflichtet, uns gegen diesen Angriff, der vom dritten Sparmemorandum geleitet wird, zu wehren”, so Stavros Koutsioumbelis, Vorsitzender der Gewerkschaft der Staatsbediensteten Adedy.

Die Proteste richten sich vor allem gegen die weiteren Einschnitte bei den Löhnen im Öffentlichen Dienst und Kürzungen bei den Renten, aber auch gegen den Abbau des Sozialstaates, die geplanten Privatisierungen, weitere Steuererhöhungen und Zwangsversteigerungen. Die GewerkschafterInnen planen neue Aktionen nach dem Generalstreik. Trotz der Befürchtungen, dass nicht besonders viele Menschen an den Demonstrationen teilnehmen würden, begannen Demos in Athen und anderen Städten. Laut Medienberichteten haben in Athen mehr als 30.000 Menschen demonstriert. Wie üblich bei den Demonstrationen der letzen Jahre kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, als Vermummte Brandsätze und Steine geworfen haben. Die Polizei setzte laut Augenzeugen Tränengas und Blendgranaten ein.

Menschenmenge in Griechenland

APA/EPA/ALEXANDROS VLACHOS

Der Vorsitzende des griechischen Gewerkschaftsverbandes für den privaten Sektor (GSEE), Giannis Panagopoulos erklärt, wie schwierig es sei in Zeiten der Krise, die Menschen zu mobilisieren, auf die Straße zu gehen - wegen des Gespensts der Arbeitslosigkeit. „In Griechenland ist die Teilnahme an den Streiks keine einfache Sache mehr, da wir rund eineinhalb Millionen Arbeitslose haben, was denjenigen, die es geschafft haben, noch ihre Arbeitsstelle zu behalten große Unsicherheit und Angst bereitet.“ Wichtig sei, den Abbau des Wohlfahrstaates zu verhindern, betont der Gewerkschaftler: „Der Wohlfahrtsstaat muss auf einem anständigen Niveau erhalten bleiben, weil es das einzige ist, was den sozialen Zusammenhalt garantieren kann, der wegen der hohen Arbeitslosigkeit in unserem Land gefährdet ist.“

Beunruhigende Prognosen

Die aktuellen Statistiken über die soziale Lage der GriechInnen sind schockierend. Jede/r dritte BürgerIn lebt in Armut oder ist von Arbeitslosigkeit bedroht. In Griechenland hat im August laut Eurostat die stärkste Erhöhung von Lebensmittelpreisen aller EU-Staaten stattgefunden. Und dies, obwohl sich das Land seit sechs Jahren in der Rezession befindet und im Sommer Kapitalverkehrskontrollen eingeführt wurden. Dazu plant die Stromgesellschaft DEI 100.000 ihrer KundInnen den Strom abzustellen, weil sie ihre Rechnung nicht bezahlt haben. Der Zahlungsverzug liegt mittlerweile bei 2,1 Milliarden Euro. Die Prognosen sind nicht gut.

Die EU-Kommission rechnet noch mit einem Rückgang des griechischen Bruttoinlandprodukts (BIP) um 1,4 Prozent für dieses Jahr und 1,3 Prozent für 2016. Das BIP Griechenlands soll laut ihren Prognosen erst ab 2017 wieder um 2,7 Prozent zulegen. Auch die Lage am Arbeitsmarkt soll sich erst dann verbessern. Für kommendes Jahr rechnet man mit 25,8%

Finanzminister Efklidis Tsakalotos peilt schon in der zweiten Hälfte des kommenden Jahres eine Rückkehr des Landes auf den freien Kapitalmarkt an. Doch vieles hängt von der politischen Stabilität in Griechenland ab. Die letzten Monate und Jahre haben bewiesen, dass nichts sicher sein kann, in einem Land, das atemlos schwere Sparauflagen umsetzen muss. Immer wieder findet man in der griechischen Presse Artikel über Szenarien der Bildung einer Regierung der Nationalen Einheit unter Teilnahme mehreren Parteien. Es wird befürchtet, dass Tsipras bald Hilfe im Parlament brauchen wird, um die harten Auflagen der Gläubiger durchzubringen.

Der Beamte Themistoklis, der am heutigen Streik teilnimmt, blickt nach Portugal, um etwas Hoffnung zu bekommen, dorthin, wo sich die linken Parteien zusammengetan haben, um eine neue Regierung zu bilden, die sich gegen den Sparkurs stellt. Für sein Land hat er zurzeit keine Hoffnung: “Ich glaube, dass Griechenland keine Regierung haben kann, weil es ihm die angeblich demokratischen Institutionen in Europa nicht erlauben. Demokratie existiert nicht in Europa und wenn sich die europäischen Bürger darüber bewusst werden, können sie irgendwann wieder die Demokratie nach Europa zurückbringen”.