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Marc Carnal

Wer sich weit aus dem Fenster lehnt, hat die bessere Luft. Lach- und Sachgeschichten in Schönschrift.

29. 12. 2013 - 14:48

24 Stunden blind

Die letzte Aufgabe im Jahr der Pflicht: Einen ganzen Tag mit verbundenen Augen verbringen

marc carnal

Nach dem Jahr des Verzichts im Jahr 2011 gilt es heuer, monatliche Pflichten zu bestehen. Mitstreiter sind in der Neigungsgruppe Pflicht jederzeit willkommen.

Jeden Monat stehen drei Aufgaben in Kategorien wie Handwerk, Wissen oder Selbstüberwindung zur Auswahl. Die Leserschaft stimmt darüber ab, welche Pflicht erfüllt werden muss.

Voting Jänner - Kategorie Handwerk

Voting Februar - Kategorie Wissen

Voting März - Kategorie Musik

Voting April - Kategorie Sport

Voting Mai: Kategorie Essen

Voting Juni: Kategorie Schreiben & Lesen

September: Pflicht-Urlaub mit Max

Voting Oktober: Kategorie Soziales

Voting November: Kategorie Selbstüberwindung

Zum Abschluss des “Jahres der Pflicht” musste ich 24 Stunden blind zubringen. Die Vorbereitung bestand einerseits darin, die Wohnung von Hindernissen zu befreien (Tellereisen, Fallstricke, Fangnetze), vor allem aber, einige Freunde zu bitten, mit mir Zeit zu verbringen. Ich wollte keine Assistenten engagieren, die mich füttern oder bis zur Klobrille führen, sondern vor allem Unterhaltung. Denn meine größte Befürchtung war entsetzliche Langeweile.

Am 23. November um Punkt 22 Uhr verklebte ich mir die Augen unter großzügigem Einsatz von Verbandsmaterial. Ich vermutete zurecht, damit ziemlich scheiße auszusehen. Es folgten angenehme Stunden bei Rotwein und Talk mit meinem nächtlichen Talkgast. Zwischendurch besuchte ich ohne nennenswerte Zwischenfälle die Toilette. Was sonst noch im Rahmen der blinden Nacht geschah, bleibt aus Liebe zur Diskretion unerwähnt, würde ich aber jederzeit weiterempfehlen.

Herausfordernder wurde es am nächsten Tag. Vor dem Einschlafen blind zu plaudern kennt man von Stromausfällen oder verstohlenem Flüstern nach dem Zapfenstreich am Schulschikurs. Blind aufzuwachen ist da schon eine andere Disziplin, besonders, wenn man in der Früh eher zu einem bewölkten Gemüt neigt.

lena w.

Herr und Frau Josef hatten sich bereits um 10 Uhr zum Frühstücken angekündigt. Nett frühstücken mit netten Leuten ist was für nette Leute, die gerne nett frühstücken. So einer bin zwar nicht, war aber in diesem Fall glücklich, Besuch zu bekommen. Die gütige Frau Würfel tischte üppig auf. Ich beschränkte mich auf einfache Hilfsarbeiten, für die ich unendlich lange brauchte.

Das Speisen gestaltet sich meinerseits als Aneinanderreihung von Schikanen und Missgeschicken. Es ist ohne Sehkraft sehr mühsam, ein Brot ohne Hilfe auseinanderzuschneiden und Wurst oder Käse am Tisch zu finden. Ein Wurst/Käs-Szenario. Und davon kann sich jeder eine Scheibe abschneiden. Außer, er sieht die Zutat dabei nicht. Alles nicht so einfach.

Zwischendurch berechtigtes Gelächter. Wegen meiner revolutionären Zigaretten-Anzünde-Technik, meinen vergeblichen Versuchen, lässig dazusitzen, weil ich im Wohnzimmer versuche, mir die Hände zu waschen und und und. Ich verstehe die Erheiterung, bin dann aber ganz froh, als ich zu Mittag mal kurz meine Ruhe habe, denn die Blindheit ist anstrengend. Jeder Handgriff erfordert Bonuskonzentration.

In der Besuchspause ging ich duschen. Kein Problem, man kennt das eigene Bad viel besser als die eigene Westentasche, denn was ich teilweise in meiner Westentasche finde, mag man kaum glauben.

Um 14 Uhr besuchte mich Kollege Wurm. Ich überließ es dem geschätzten Freundi, sich eine Nachmittagsaktivität zu überlegen. “Freundi” ist zwar ein Tippfehler, aber das Wort ist so lieb, dass ich es stehenlasse und hinkünftig auch verwenden werde. Freundi Wurm sitzt der Schalk freilich im Nacken - er führte mich zum Running Sushi in die Lugner City.

florian g.

Frau Würfel leitete mich meisterhaft durch das wilde Straßentreiben von Währing. Zumindest erscheint abzüglich der Sehkraft draußen alles hektischer, lauter und gefährlicher. Zu Beginn verliere ich kurz die Orientierung, weiß danach aber immer ziemlich genau, wo wir uns gerade befinden. Die innere Straßenkarte ist nicht zu unterschätzen. Die U-Bahnfahrt ist zehrend. Sobald die Begleiter kurz schweigen, versichere ich mich - hilflos an die Haltestange geklammert - dass sie eh noch da sind. Dass ich mit meinem hässlichen Augenverband ein seltsames Bild abgebe, ist mir rasch wurscht. Man sieht die irritierten Blicke ja nicht.

florian g.

Das beliebte Einkaufszentrum ist schon sehend, aber erst recht blind eine schlimme Flut an ungeliebten Reizen. Diese Gerüche! Die Stimmen!

Kollege Wurm reicht mir nach und nach verschiedene Tellerchen und verzichtet dabei auf allzu große Hinterlist. Hier bewahrheitet sich erstmal die erwartete Sensibilisierung auf die verbliebenen Sinne, alles schmeckt intensiver. Vielleicht ist es auch das Glutamat.

Meine Tischmanieren bröckeln zusehends, aber die große Abwechslung an Konsistenz, Größe und Temperatur der zahlreichen Gänge ist nicht leicht zu handeln, wenn sie einen im Minutentakt unvorbereitet trifft. Fast alle Speisen erkenne ich. Nach bereits zwölf Tellerchen habe ich genug. Das Auge scheint tatsächlich mitzuessen. Wenn man nicht sieht, welche weiteren Köstlichkeiten auf dem Förderband dahintuckeln, strahlen sie auch keinen Appeal aus und man hört einfach zu essen auf, wenn man genug hat. Ließe sich selbstgewählte Blindheit gar als neue Diätmethode vermarkten?

florian g.

Am späten Nachmittag war ich wieder zu Hause. Frau Würfel musste sich verabschieden und mich bis zum nächsten Besuch alleine lassen, verabsäumte es aber nicht, zuvor noch einen deftigen Lachkrampf zu erleiden. Meine Frage nach dem Grund ihrer Heiterkeit blieb unbeantwortet. Der Geruchssinn des Blinden ist rege, deshalb roch ich die Lunte: Ein Streich! Nachdem Frau Würfel sich verabschiedet hatte, stolperte ich natürlich nicht über den Besen, den sie zuvor in die Küchentür gestellt hatte. Ein Jahrhundertstreich. Selbst bar sämtlicher Sinne wäre ich nicht gestolpert. Ich hätte an ihrer Stelle mindestens die Konkursmasse einer Stecknadelfirma zu Streichzwecken aufgekauft.

Die vergleichsweise kurze Zeit, die ich alleine in der Küche saß, brachte große Langeweile mit sich. Ich rauchte permanent und versuchte, auf der Straße oder in Nachbarwohnungen lohnende Geräusche zu vernehmen. Alleine: Ich vernahm keine. Also tastete ich mich zum Radio, um Ö1 zu hören. Die reden wenigstens die ganze Zeit.

Die letzten Stunden verbrachte das Fräulein Sand mit mir. Sie amüsierte sich nur mittelprächtig und wollte bald wieder aufbrechen, ich bettelte sie aber an, bis zur letzten der 24 Stunden mit mir auszuharren. Um Zeit zu schinden, bewerkstelligte ich die Zubereitung einer Tiefkühlpizza. Zwischendurch machte Fräulein Sand das Gemeinste, was man einem Blinden antun kann. Um ihren Ruf nicht nachhaltig zu beschädigen, will ich nicht davon berichten, unter Zuhilfenahme eines Links aber undezent andeuten, welche Fiesheit sie zuwege brachte.

Pünktlich um 22 Uhr riss ich mir die wohlverklebte Augenbinde aus dem Gesicht und war für zehn Sekunden ob des optischen Overflows kurz überwältigt und euphorisch. Schön ist es, sehen zu können.

2014 - Jahr der Gicht?

Damit endet das Jahr der Pflicht. Ich bin froh darüber, weil mich einerseits die meisten Aufgaben kaum gereizt haben und zwei gar unerfüllt blieben. Die Pflichten waren aber ohnehin nur ein Vorwand für mein Diarium, dessen gewissenhafte Führung mir aber im Vergleich zu 2011 auch keine allzu große Freude bereitet hat. Hat man stellenweise wahrscheinlich gemerkt.

Immerhin habe ich in den letzten zwölf Monaten aber unter anderem eine Haube gestrickt, das Morsen erlernt, Fremden eine dreistöckige Hochzeitstorte überreicht, in Heilschlamm gebadet oder die Lugner City aus Sand gebaut. Auch nicht übel.

Ich wünsche ein schönes Jahresende, bis bald!