Erstellt am: 9. 1. 2011 - 12:48 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts (1)
marc carnal
An dieser Stelle erscheint 2011 jeden Sonntag ein Destillat meines (natürlich nicht privaten) Tagebuchs, das einerseits ein Dokument des selbstauferlegten Diktums ist, täglich zu schreiben und zweitens manchmal hauptsächlich, öfter wohl zwischen den Zeilen das Jahr des Verzichts dokumentieren wird.
Zwölf Monate lang haben eine überschaubare Schar an Mitstreitern und ich es uns auferlegt, zu verzichten. Jeden Monat auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gilt freiwillige Selbstkontrolle und dezenter Gruppendruck.
Manche Monate werden beinhart, etwa die absolute Verkehrsmittel-Askese mit Ausnahme des Fahrrads oder das zumindest dreißigtägige Nichtrauchen, andere eher interessant denn schwierig.
Ende des Jahres dürfen wir dann - im Erfolgsfall - auf eine gewisse Willensstärke anstoßen.
Dieses Tagebuch beginnt folgerichtig mit dem
1. Jänner
■ Lese endlich den Artikel, auf den mich Kollege Wurm schon vorgestern aufmerksam gemacht hat und bin nach der Lektüre traurig und verständnislos.
Nachdem die darunter verlinkten Geschichten auf einen beträchtliche Verbreitung der Meldung über einen umgestoßenen Blumenkübel hinweisen, verliert die unabsichtlich zauberhafte Miniatur für mich sofort an Reiz. In weiterer Folge ärgere ich mich, dass ich mich oft nur für eigene Entdeckungen begeistern kann und umgekehrt große Popularität sofort einen schalen Beigeschmack mitbringt. Falsch. Gut ist, was gut ist.
■ Auch Texte können Ohrwürmer sein. "Thruth is nice, but realness is better". Dieses Bukowski-Zitat höre ich seit Tagen... vor meinem geistigen Ohr? Feiert da gerade eine nahe liegende Metapher ihre Weltpremiere?
■ Gestern Restalkohol für einen Monat konsumiert, bisher ist der Verzicht nicht spürbar. Nicht weil, sondern obwohl Silvester war.
■ Mit Activity verbinde ich hauptsächlich das Gefühl der ausgelagerten Scham – um das inflationär verwendete Wort des Jahres zu vermeiden – gepaart mit gütigem Bedauern für all jene, die beim Pantomime-Teil so himmelschreiend unkreativ sind.
■ Sogenannte Spieleabende: Nett Raclette essen, dann Tabu, Twister, Singstar, Siedler und dazu Bowle und selbst gemachten Obstkuchen. Es gibt Grenzen!
■ Geschäftsidee, inspiriert durch Saddams Koran: Akut Verliebte spenden Blut, womit ein Brief an den Begehrten in Schönschrift produziert wird. Firmenname: Blut-Druck.
2. Jänner
(Berchtoldstag - Der Feiertag, an dem die Schweizer weder wissen, was sie feiern, noch wie sie feiern sollen)
■ Jonathan Meese: Als Medienfigur schon einmal unerträglich. Die vergällt einem zuerst jede nähere Beschäftigung mit seiner Kunst. In Interviews der klassische Quoten-Provokateur ohne Substanz, collagiert die billigsten Tricks, um sein Wiederkäuen zu kaschieren. Dann will man wenigstens so fair sein, sich exemplarisch durch sein Gesamtwerk zu schnuppern, nur um zu erkennen, dass der oberflächliche Eindruck absolut richtig war.
■ Einmal in einem Restaurant eine Stoffserviette erbost auf den Tisch werfen und „Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“ sagen – Das muss ich noch erledigen.
■ Sechs Stunden lang Kaffee und Cola mit einem sich alkoholisierenden Gegenüber getrunken. Grundsätzlich sehr angenehm, die Abstinenz irritiert nur bei der ersten Bestellung. Mein erster echter Koffeinrausch. Schwindel, leichte Übelkeit, bin insgesamt sprunghaft, fahrig, unkonzentriert. Muss bessere antialkoholische Alternativen finden oder mein Trinktempo der Substanz anpassen.
Meine Rechnung war übrigens wesentlich höher.
■ Jonathan Franzens Freiheit: Fantastisch. Einer jener amerikanischen Schriftsteller, deren Fleißarbeit kaum geschwätzig, überflüssig oder langweilig wird (siehe Irving). Die meisten Figuren, allen voran Patty, werden selbst nach unzähligen Irrwegen und einer späten Katharsis nicht greifbar, aber nicht, weil Franzen sie zu eindimensional gestaltet, sondern vielmehr, weil sie so komplex und widersprüchlich und daher realistisch erdacht und beschrieben sind. Der Bogen der reich verzweigten Erzählung ist holprig und unrhythmisch und daher glaubhaft.
Und: Die Übersetzung ist größtenteils sehr gelungen und verdient ebenso Erwähnung wie das Lektorat, auf über siebenhundert Seiten in der ersten Auflage keinen einzigen Schnitzer gefunden.
■ Ich könnte ab morgen als kleine Zusatzbürde beginnen, so viele verschiedene antialkoholische Getränke wie möglich auszuprobieren und hier einen kleinen, zwischendurch eingeflochtenen Trinkführer verfassen.
■ Aktueller Lieblingsparagraph aus dem Strafgesetzbuch:
“Beharrlich verfolgt eine Person, wer in einer Weise, die geeignet ist, sie in ihrer Lebensführung unzumutbar zu beeinträchtigen, eine längere Zeit hindurch fortgesetzt unter Verwendung ihrer personenbezogenen Daten Waren oder Dienstleistungen für sie bestellt“ (§ 107a, STGB)
Man kann also bis zu ein Jahr im Häf'n sitzen, weil man jemandem einen Monat lang täglich Pizza Hawaii liefern lässt? Das könnte ich mit meinem alten Traum verbinden, bei einem Lieferservice ausschließlich den Speisekarten-Klassiker „Eine Portion Schlag (0,60€)" zu ordern.
3. Jänner
■ Schöne Beispielsätze aus dem Duden der deutschen Idiomatik:
“Wir wissen auch, dass kein Klopapier mehr da ist, deswegen brauchst du doch nicht so einen Tanz aufzuführen!“
“Er setzte sich besoffen ans Steuer und fuhr den neuen Schlitten von seinem Alten in den Arsch.“
“Dauernd soll ich dir einen neuen Fummel kaufen, und immer vom Feinsten und Teuersten – Mein Arsch ist doch keine Münzanstalt!“
“Du kannst das Feuerzeug behalten, ich habe noch ’nen ganzen Arsch voll davon:“
■ Litschisaft: Unspektakuläres Zuckerwasser.
Granatapfelsaft: wie fahler Johannisbeersaft, aber ganz in Ordnung.
■ Versuche, das doppelte Trinklied des großen Günter Nehm zu covern und scheitere daran auf ganzer Linie. Zu lesen als zwei Vierzeiler oder in Kombination, als Draufgabe auch noch in Schüttelreimen:
Durstgeplagte Wesen trinken / Wasser aus den Wasserhähnen
Schnäpse, die vom Tresen winken / Kann man nur mit Hass erwähnen
Schwerlich können Kräfte siegen / Hat man eine Bar gefunden
Wenn wir Milch und Säfte kriegen / Ist die Durstgefahr gebunden.
4. Jänner
(Welthypnosetag. Ohne Alkohol nur der halbe Spaß!)
■ Der Tiroler weckt mich in aller Frühe. Bin nach vier Stunden Schlaf kaum verstimmt, beinahe wohlgelaunt – Ein Hoch auf die Abstinenz.
Vor zehn Jahren diktierte ich einer wunderschönen Niederländerin am Plattensee drei Sätze, die ich sie auf ihre Muttersprache zu übersetzen bat:
- "Ihr Nummernschild ist verdorben."
- "Zuckerwatte erinnert mich an Blutegel."
- "Ein Sommerhit ist eigentlich eine leere Blase, sagte Ewald und verließ den modernen Wintergarten."
So manches Stelldichein würzte ich mit diesen seltsamen Beispielen. Heute sagte ich die Sätze dem Tiroler auf, der jahrelang in Amsterdam zugebracht hat. Er meinte, das wäre bestenfalls Fantasiegebrabbel, das ein bisschen nach Rudi Carrell klingt.
Über alle Maßen ärgerlich, ein Jahrzehnt lang an einen absoluten Burner im Repertoire geglaubt zu haben, der sich bei der ersten wirklichen Prüfung als Streich eines hinterhältigen Teenies entpuppt.
Der Tiroler ist seltsam. Vor zwei Wochen waren wir in einem der edelsten Restaurants der Stadt geladen, wo er die kunstvoll zubereiteten Desserts mit der Bemerkung verschmähte, Süßspeisen tendenziell abzulehnen. Heute Morgen zeigte er sich von den schäbigen Hofer-Schokostangen hellauf begeistert.
■ Draußen ereignete sich übrigens eine partielle Sonnenfinsternis.
09:12
Ein Blinzeln durch die Jalousien,
die späte Morgensonne schien
schon auf die Nachbarsdächer.
(Und wurde noch nicht schwächer.)
09:28
Leitungswasser, Monitor,
Tastatur und gleich davor
ein voller Aschenbecher.
(Die Sonne wurde schwächer.)
09:37
Kaffee. (Die Sonnenfinsternis
dauerte so circa bis
jetzt, das muss auch reichen.
Ein Schauspiel sondergleichen.)
■ Kann man etwas für zehn Cent kaufen, mit dem man jemandem theoretisch Freude bereiten kann? Was kann man überhaupt für zehn Cent kaufen? Essbares?
Vielleicht einen Dübel. Was kosten mittlerweile einzelne Colakracher beim Kramer am Dorfplatz?
Nehme mir mit Kollegen B. vor, bis zum fünfzehnten des Monats gegenseitige Geschenke mit Kassenbeleg zu finden, die zehn Cent oder weniger kosten.
■ Fruchtsaft, Kaffee, Leitungswasser, Fruchtsaft, Kaffee, Leitungswasser. Das Triumvirat meines Flüssigkeitshaushaltes. Der Litschisaft wird nicht weniger. Morgen neue Experimente.
5. Jänner
■ Heinz Strunk in Afrika – Zwei Klassen schlechter als der Erstling, wie schon die Zunge Europas. Fleckenteufel barg stellenweise noch alte Stärken, hier aber endgültig: Pulver verschossen, routinierte Wiederholungen des inhaltlichen und technischen Repertoires. Amüsant ist vor allem Reisepartner C., wohl aber nur, wenn man weiß, um wen es sich handelt.
■ Edward mit den Penishänden: Den Klamauk-Sex kann man sich wirklich sparen, die Eingangsszene jedoch, die Edward im Kreise der Familie am Mittagstisch zeigt, wie er mit seinen Penishänden vergeblich versucht, Spaghetti aufzugabeln, ist Weltklasse.
■ Sauerkrautsaft: Sensationell. Sollte man nicht verpassen!
■ Bisher beim Versuch, ein Produkt zu finden, das zehn Cent kostet und den Beschenkten erfreuen würde, gescheitert. Im Billig-Ramsch-Paradies um die Ecke kostet der günstigste Artikel laut Verkäufer zwanzig Cent – ein Lutscher.
Natürlich könnte ich auch zwei Kirschen abwiegen oder drei Räder Salami ordern, aber das ist nur die Notlösung.
6. Jänner
■ Tipp gegen Langeweile: Persönliche Meinungen nachjustieren.
■ Tipp für Kolumnisten: Bei Inspirations-Durststrecken nicht sofort darüber schreiben, dass in Flugzeugen immer Tomatensaft getrunken wird. Es gab in den letzen zwei Jahrzehnten vierzehntausend Kolumnen im stilistischen und inhaltlichen Schonwaschgang zu diesem Sachverhalt.
■ Tipp für Studenten der philosophischen, soziologischen oder psychologischen Fakultät, die ein Thema für ihre Diplomarbeit suchen: Das Verhalten von Supermarktkunden, wenn eine zweite Kassa geöffnet wird.
■ Erster Erfolg der Zehn-Cent-Mission:
sophie landerl
7. Jänner
■ Fünfundneunzig Prozent allen Lachens entsteht aus Verlegenheit.
■ Gehört auch mal gesagt: Rosinen sind nahrhafte, wohlschmeckende Kulturleistungen und würzen manch sonst öden Stollen. Jedem, der Rosinen ablehnt, mangelt es an Herz, Hirn und vor allem Geschmack. Gute Menschen lieben Rosinen, schlechte hassen sie. Ich verehre die süßen Traubenleichen.
■ Nach der ersten, problemlos absolvierten Woche zum ersten Mal wirklich akuter Bierdurst. Stattdessen Orangen-Zitronen-Karottensaft. Und der Monat ist noch jung.
■ Das neunjährige Nachbarskind möchte meinen Fernseher für „Helden von morgen“ buchen. Ich lasse mich erweichen und genieße den Wettbewerb mit ihm, Übernachtungsfreund und Mutter.
Das Highlight ist eine Homestory, in deren Rahmen der Künstler stolz einen Mehrfachstecker in seinem Jugendzimmer präsentiert. Ausgerechnet diese Szene lässt man unkommentiert im luftleeren Raum der Show stehen, obwohl in derlei Sendungen grundsätzlich alles kommentiert wird.
Die Entscheidung am Ende soll durch halbstündige Überlänge spannend gestaltet werden, die Kinder schlafen jedoch ein.
8. Jänner
■ Ad F.W. Bernstein:
Die größten Förderer der Wiese
mähen später ebendiese.
■ Heidelbeer-Saft: Unaufdringlich köstlich.
■ Ich bevorzuge einen klassischen Händedruck und keine minutenlangen Begrüßungsrituale mit Schnippen, Klatschen und Hüpfen. Ich werde mir auch nie eine dieser manuellen Choreographien merken und versage daher regelmäßig dabei. Individualitätsdemonstrationen mögen durch Meinungen und Haartollen vonstattengehen, alltägliche Rituale sollten aber aus rein praktischen Gründen von den Berufsoriginellen unangetastet bleiben. Wenigstens das inflationär eingesetzte Wangenküssen ist bisher weitgehend unchoreographiert.
■ Wer Blasendruckbefreiung anstrebt, soll schweigend weg- und dann austreten und nicht schier stolz ankündigen, die Pipibox aufzusuchen, denn wer dort mal für kleine Mädchen geht, hallofoniert auch mit oder kauft Fressalien für seine bessere Hälfte, legt also keinen Wert auf seinen Ausdruck und hält das Nachbrabbeln von Schmunzelschmunzelvokabular und Fertigteilhalbsätzen für originell.
Wer die Gesellschaft interessanter Menschen begehrt, möge nicht immer nach Beruf, Alter und Interessen fragen, sondern einfach nur darauf achten, wie das Gegenüber spricht.
■ Das mit Abstand beknackteste Produkt, das jemals im Teleshop feilgeboten wurde, ist zweifelsohne der Ear Zoom. Wochenlange Kreativsitzungen gingen diesem Spot voraus, um nicht möglichst treffende, sondern möglichst viele Beispiele für Situationen zu finden, in denen man besser hören sollte, zum Beispiel, wenn wieder einmal heimtückische Nachbarn mit dem Auto in der Parklücke lauern.
Wer errät, was die neuerdings gut hörende und damit auch kochende Hausfrau bei Minute 5:42 kocht, gewinnt keinen Ear Zoom, denn diese Jahrhunderterfindung ist aufgrund der rasenden Nachfrage leider allerorts ausverkauft, was der Sammlertrieb für groteske Produkte in mir ein kleines bisschen bedauert.