Erstellt am: 6. 9. 2013 - 14:27 Uhr
Rough Guide Cairo
Schauplatz Ägypten
Geschichten aus Kairo und vom Tahrir-Platz
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- Mangosaft und Gewehrkugeln: Ägypten im Ausnahmezustand (Sammy Khamis)
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- Dekrete, Demonstrationen und eine neue Verfassung: Eine Analyse zur umstrittenen Verfassung (Sammy Khamis)
Pressefreiheit in Kairo dauert genau fünf Minuten. Solange ist es her, seit ich aus dem Taxi gestiegen bin, auf die von Glassplittern und Steinen übersäte Fahrbahn im Kairoer Stadtteil Heliopolis. Und nun steht ein Junge vor mir, kaum 16, und zielt mit der scharfen Krone einer angebrochenen Pepsiflasche auf meinen Hals. In der linken Hand trägt er einen Getränkekasten, mit dem er mich vor sich her schubst. Ich gehe rückwärts, stolpere. Er fuchtelt mit der Flasche, macht Gesten, als könnte er jederzeit zustechen. Wenn es darauf ankommt? Wenn er dazu Lust hat?
Es ist Freitag, der 30. August. Die Unterstützer der Muslimbruderschaft demonstrieren. Es marschieren Frauen, Männer - und (bezahlte) Schläger, sogenannte Baltaghia. Der Junge mit der Glasflasche gehört eindeutig zur Baltaghia. Es ist diese am Flaschenhals abgebrochene Pepsi-Flasche, die verdeutlicht, wie es um die Pressefreiheit in Ägypten steht.
Freitagsproteste in Kairo - Ausnahmezustand im Kleinen
Der Junge schreit etwas Unverständliches. Es hört sich an wie "Journalist". Zahlreiche Köpfe drehen sich in meine Richtung. Jungs und Männer mit Steinen in der Hand, mit T-Shirts um den Kopf gebunden und zerrissenen Hosen, laufen auf mich zu. Sie umstellen mich. Schubsen. Ich werde getreten. Überall auf meinem Körper spüre ich Hände. Sie ziehen mir Geld, mein Handy und meinen Ausweis aus den Taschen meines Hemds und meiner Hose. Ein Mann reißt mit aller Kraft an dem Gurt meiner Kamera. Ich umklammere sie, als hinge mein Leben daran. Der Gurt reißt. Ich nehme in all dem Chaos nichts wirklich wahr außer den Flaschenhals, der bedrohlich nahe an mein Gesicht kommt.
Sammy Khamis
Die Menschen, die an diesem Tag in Heliopolis demonstrieren, sind Anhänger des am 3. Juli gestürzten Präsidenten Mohamed Mursi. Seit dem Fall Mursis sind nach übereinstimmenden Angaben mindestens 1.000 Menschen gestorben. Auch die Lage für Journalisten hat sich dramatisch verschlechtert. Seit dem 14. August, dem Tag, an dem die Protestcamps der Muslimbrüder gewaltsam geräumt wurden, haben nach Angeben von "Reporter ohne Grenzen" (RSF) insgesamt fünf Journalisten ihr Leben gelassen. Alle durch die Kugeln der Sicherheitskräfte. Über 80 wurden verhaftet, 40 Journalisten von Zivilisten angegriffen. Zusätzlich berichtet das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ), dass seit dem 3. Juli neun Nachrichtensender und Agenturen von Sicherheitskräften durchsucht wurden. Dem ägyptischen Ableger von Al Jazeera (der der Muslimbruderschaft nahe stand) wurde die Lizenz entzogen.
All diese Zahlen klingen abstrakt. Besonders wenn man selbst von einem Mob aufgebrachter Baltaghia umstellt ist. Zwei Polizisten in Zivil kommen mir zu Hilfe. Sie schreien "Haram, Haram!", also "Verboten". Direkt danach höre ich nur ein: "Lauf! Lauf!" Ich umklammere meine Kamera und blicke noch einmal auf. Seltsam, wie in Zeitlupe kommt es mir vor. Ich schaue auf die Straße. Dort liegt etwas Geld. Direkt daneben mein Stift und mein Notizbuch. Mein Blick wandert nach oben. Zuerst sehe ich eine blaue Jeans-Hose. In der einen Hand ein Kasten mit fünf leeren Pepsi-Flaschen, in der anderen eine abgebrochene Flasche. Sein verschwitztes, schmutziges, gelbes T-Shirt. Der Junge mit der Flasche wird von anderen Demonstranten zurückgehalten. Seine Augen erkenne ich vage. Die Entschlossenheit darin ist deutlich.
Journalisten am Pranger
Ich laufe so schnell, dass der Polizist fast nicht nachkommt. Er hält mich am Arm. Fest. Seine Finger bohren sich in mein Fleisch. Wir erreichen eine Nebenstraße, schnappen nach Luft. Wenn Journalisten in Ägypten verhaftet werden, dann heißt das, dass sie 24 Stunden auf einem Holzstuhl sitzen müssen und immer wieder gezwungen werden aufzustehen und sich wieder zu setzen. Dann heißt das aber auch, dass insgesamt sieben Journalisten bereits seit Wochen festgehalten werden. Ohne Anklage.
In der Nebenstraße gibt der Polizist nicht einmal vor, mich befragen zu wollen. Seine Sätze hören sich an wie Anklagen: "Sie sind Journalist. Sie sind Deutscher. Ägypten kämpft gegen den Terrorismus. Und Sie stellen alles falsch dar!"
Die Polizisten verhaften mich. Weil… ja weil man das nun so macht in Ägypten. Ich werde gerade abgeführt, als ein hupender Roller auf uns zu braust. Zwei Zivilisten sitzen darauf. Sie bringen mir - zu meiner eigenen, großen Überraschung - meine Sachen wieder: Geld, Ausweis und Handy. Auf Twitter kann ich meine Verhaftung noch veröffentlichen. Die zahlreichen Tweets und Retweets informierten auch meine Cousine, eine Freundin und meinen Cousin. Viele wichtige Blogger in Ägypten haben die Nachricht der Verhaftung über Twitter weitergeleitet.
Sammy Khamis
Are you serious...
Sammy Khamis Blog
Das Polizeirevier in Heliopolis gleicht einer Festung. Überall stehen bewaffnete Männer. Der Eingang ist mit Sandsäcken verbarrikadiert. Allein Schießscharten sind frei. Daraus ragen Gewehrläufe. Dem diensthabenden Offizier werde ich mit den Worten "Der Herr Journalist hat fotografiert" vorgestellt. Der Mann ist skeptisch, herablassend und zwingt sich dennoch dazu, höflich zu bleiben. Er kontrolliert meine Papiere. Er ist erstaunt, dass ich Arabisch mit ihm spreche und dennoch einen deutschen Ausweis zeige. Er hält mich für hochnäsig. Der Offizier ist über 50 Jahre alt. Mein Handy, mit dem ich gerade noch auf Twitter war, nimmt er mir ab. Er herrscht einen jüngeren Beamten im Revier an, er solle mein Handy auf "verdächtige" Fotos zu untersuchen. Sie werden fündig. Am Tag zuvor habe ich eine kleine Demonstration von circa 50 Menschen fotografiert. So wie zahllose Passanten auch. Es reicht aus, um alle Fotos auf meinem Handy zu löschen. Dann fällt sein Blick auf meine Kamera.
Ägyptische Sicherheitskräfte reagieren ausgesprochen sensibel auf Fotografen. Sie haben kein Interesse daran, dass Verbrechen, die Militär und Polizei begehen, öffentlich gemacht werden. Die unabhängige Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch nennt die Vorgänge in den letzten Wochen "Die schlimmste Tötung von Zivilisten in der jüngeren Geschichte Ägyptens".
Ein Video, aufgenommen während eines weiteren Massakers an der Präsidentengarde am 8. Juli, ist ein erschreckendes Zeugnis vom Umgang mit Fotografen. Das Video ist anfangs verwackelt, fokussiert dann auf ein Gebäude. Der Bildausschnitt wandert an der Außenwand nach oben. Auf dem Dach des Gebäudes findet man einen Soldaten. Er legt sein Gewehr an. Schießt. Das Video bricht ab. Der Journalist wurde von einem Scharfschützen getötet. In Ägypten herrscht das "Wir gegen sie", das "Entweder bist du für uns - oder gegen uns" auf die brutalstmögliche Art und Weise.
Nach zwei Stunden im Polizeirevier wurde ich wieder frei gelassen. Meinen Fotofilm haben die ägyptischen Behörden behalten. Die Bilder zeigten Leichen vom Massaker am 14. August am Rabaa-Square in Kairo.
"Entweder bist du für uns - oder gegen uns."
"Sind Sie mit uns oder gegen uns?" Diese Frage kommt mit Nachdruck. Der Offizier in der Polizeistation von Heliopolis stellt mir die Frage so, dass er nur die eine Antwort darauf hören will. Bin ich mit ihm, dem uniformierten, frisch rasierten, englischsprechenden und bewaffneten Offizier. Ober bin ich auf der Seite des verschwitzten, anonymen Jungen mit der Glasflasche in der Hand? Ich bin weder mit Mördern, noch mit Terroristen - möchte ich sagen. Daraus wird ein: "Ich bin weder mit Ihnen, noch gegen Sie, ich bin Journalist."