Erstellt am: 18. 8. 2013 - 14:26 Uhr
Mangosaft und Gewehrkugeln
Die Revolution in Ägypten ist nicht vorbei, sie wird nur gerade von jeder Seite angegriffen. Leider oft brutal und sehr oft mit scharfer Munition.
Als sich die Übergangsregierung in Kairo dazu entschloss, die großen Protestcamps der Muslimbruderschaft zu stürmen da war klar, in welche Richtung Ägypten in den folgenden Tagen steuern wird: offene Gewalt, Straßenkämpfe und unzählige Tote. Seit Mittwoch sind nach offizieller Zählung über 800 Menschen gestorben. Anhänger der Muslimbruderschaft haben zahlreiche christliche Einrichtungen angegriffen und mit Schnellfeuerwaffen auf Sicherheitskräfte geschossen.
Sammy Khamis
Der Grund für die Unruhen: Am 3. Juli hat das Militär, nach den angeblich größten Demonstrationen in der Geschichte der Menschheit, den gewählten Präsidenten Mohamed Mursi aus dem Amt gedrängt und festgenommen. Mohamed Mursi stammt aus den Reihen der Muslimbruderschaft. Seit Ende Juni forderten seine Unterstützer in zwei großen Protesten in Kairo seine Rückkehr ins Präsidentenamt.
Zum "Kampf gegen den Terror"
Die Regierung Ägyptens rechtfertigt ihr Vorgehen gegen die Muslimbruderschaft, indem sie der Gewalt ein altbekanntes Label aufdrückt:
Egypt is fighting Terrorism.
Die Muslimbruderschaft sei eine Gruppe von Terroristen, deshalb dürfe sie mit allen Mitteln bekämpft werden.
Eine Aussage, die dem Mitbegründer der oppositionellen Jugendbewegung 6th of April, Mohamed Salah el Din, den Magen umdreht. Er sitzt in einem Restaurant auf der Nilinsel Zamalek. Noch bevor der Kellner ihm seinen Kaffee bringt, sprudelt es aus ihm heraus: "Alles, was nach dem 30. Juni [dem Tag der 'größten Proteste' gegen Mursi] geschehen ist, war eine Umkehrung der Revolution", sagt der Aktivist, "heute beschützen Zivilisten die Polizei!" 2011, als Husni Mubarak zum Rücktritt gezwungen wurde, war das noch undenkbar.
Ein Kellner bringt Mohamed seinen Kaffee. Der wird fast kalt, weil Mohamed so viel spricht, dass er das Trinken fast vergisst.
Das Gerede von der Revolution, die nun von der Armee vollendet wird - Mohamed kann das nicht mehr hören. "Eine Revolution richtet sich gegen den Staat, nicht gegen eine Gruppe von Menschen wie die Muslimbruderschaft." Ein Kampf gegen den Terrorismus? Die Strategie kennt Mohamed auch - sie war die George W. Bushs nach 9/11. Mit all den bekannten Risiken und Nebenwirkungen.
Sammy Khamis
Zum "Freitag des Zorns"
Am Freitag, nach den Gebeten, gab es verschiedene Protestmärsche durch Kairo (und andere Städte Ägyptens). Die Zahl der Toten lag zu diesem Zeitpunkt schon jenseits der 600 und sollte an diesem Tag nochmals um 173 steigen - die Muslimbrudersschaft war dennoch entschlossen weiter zu demonstrieren.
Sammy Khamis
Ohne Frage: Man hat Vorstellungen davon, wie ein Islamist auszusehen hat: Langer Bart, kurze Hose und Gebetsmal auf der Stirn. Aber als ich mit einigen Menschen Richtung Ramsis Platz (Hauptbahnhof) in Kairo zog, war ich erstaunt, wie - im wahrsten Sinne des Wortes - bunt der Protestzug war: Junge Männer, die nicht annähernd dem Picture-Perfect-Islamistenbild entsprachen, waren ebenso unter den Demonstranten wie Anwohner des Viertels und (verschleierte) Frauen. Eine Beobachtung, die auch Sarah Carr gemacht hat. Und diesen Menschen zu unterstellen, sie wären alle Terroristen - das ist ebenso vereinfachend wie falsch.
Zu den "Terroristen"
Als ich am Dienstag, einen Tag (bzw. wenige Stunden) bevor das große Protestcamp an der Rabaa al Adaweya Moschee gestürmt wurde, mit einer Freundin eine Art Tour durch diesen "Ort des Terrorismus" machte, da zeigte sich die Situation nicht anders: Viele der Demonstranten stellten eine einfache Frage: "Where is my vote?" Insgesamt drei Personen stellten mir Mohamed Mursi als "Marionette", als "Versager" und als "Idioten" dar. Wie gesagt: Diese Stimmen kommen aus dem Protestcamp der Leute, die eigentlich den gestürzten Präsidenten unterstützen. Es waren also nicht alle Terroristen, die in den letzten Tagen Kugeln abbekommen haben.
Sammy Khamis
Aber man darf sich im Westen auch nichts vormachen: Die Muslimbruderschaft ist ein in Teilen sehr straff organisierter Verbund aus zum Teil sehr radikalen Kämpfern, die bereit sind für die Bruderschaft und vor allem für die Religion des Islam zu sterben. Die Rufe während der Demos der Bruderschaft waren immer die gleichen: Nieder mit der Militärregierung! Ägypten ist ein islamisches Land! Wir wollen einen islamischen Staat!
Wie der Journalist und Blogger Abdel Rahman Hussein gestern Abend treffend twitterte:
"Fundies to the left of me, fascists to the right, here I am stuck in the middle etc etc"
Diesen Terror der Muslimbrüder mit dem Terror des Staates bekämpfen - die ägyptische Regierung hätte sich etwas Unblutigeres einfallen lassen können.
Zu den Medien
Die ägyptischen Medien aber tun ihr Möglichstes, um die Gewalt der Sicherheitskräfte gut zu heißen. Es scheint, als würden Nachrichtensender Pressemitteilungen des Geheimdienstes oder der Polizei unabgeändert übernehmen. ON TV beispielsweise forderte am Sonntag ein noch rabiateres Vorgehen gegen die Demonstranten der Muslimbruderschaft.
Seit gut einem Jahr sind Medien in Ägypten nicht recht viel mehr als Kanäle, über die Aktivisten ihre Meinungen und Hetzte absetzen können.
Der Konflikt auf der Straße ist also vor allem einer zwischen zwei bewaffneten, militarisierten und unnachgiebigen Gruppen: der Muslimbruderschaft und dem Militär. Nach dem Motto "Entweder bist du für uns oder gegen uns" versuchen die Medien Ägypten in zwei Lager zu unterteilen. Sehr langsam entwickelt sich eine Debatte in Ägypten, die die Frage stellt: Wer sind die Extremisten im Land? Gigi Ibrahim, eine junge Bloggerin und TwitterAktivistin findet darauf eine klare Antwort:
"MuslimBrotherhood are liars, killers, opportunists, reactionary, sectarian, dictatorial, no-liberal conservative group and SCAF are exactly the same!" - tweet 17 Aug 13
Die zu den Vorfällen und den zahlreichen Toten der letzten Tage schweigende Mehrheit der Ägypter hat mich selbst schockiert. Freunde und Familie, die im Januar 2011, während der Revolution gegen Husni Mubarak jede Art der Polizeigewalt verurteilt haben, schweigen heute entweder, nehmen die Polizei als schlecht ausgebildete Truppe in Schutz oder aber fordern weiter ein hartes Vorgehen der Sicherheitskräfte.
Wer mehr darüber wissen will, sollte sich einen Facebookeintrag des Analysten Shadi Hamid durchlesen.
"But what's striking about events in #Egypt is that I actually know some of these seemingly reasonable people. Some are friends. Some are relatives. Some are people who will read this post and respond with some degree of indignation. Many, if not most, are people who I'm almost certain (should) know better. They actively defend, justify - and even cheer on - the killing of their countrymen, including ordinary Egyptians just like them."
Zu der Frage: Where does this leave us?
Mohamed Salah el Din, der Aktivist der Gruppe 6. April, nimmt nochmals einen Schluck von seinem lauwarmen Kaffee, als ich ihm diese Frage stelle. Ägypter seien eigentlich kein gewaltsames Volk, auch nie gewesen, antwortet der 30-Jährige, aber leider hätten sich die Ägypter "an Gewalt gewöhnt". Man könne das sehr gut daran sehen, wie wir in unserer Situation die Nachrichten verfolgen. Gestern Abend wurde eine umstellte Moschee von Polizisten geräumt und Hunderte Menschen wurden festgenommen. Und wir schauen uns das auf einem Flatscreen TV an, im Oberschichtsviertel Zamalek, trinken Mangosaft und Kaffee, während in zwei Kilometern Luftlinie entfernt das Fernsehen die schockierenden Bilder der Festnahmen aufnimmt.
"Wir gewöhnen uns an diese Bilder - diese Gewalt", sagt Mohamed Salah el Din, "sie schleicht langsam in die Psyche jedes Ägypters ein." Ich höre Mohamed reden, sehe die Bilder der Festnahmen im Fernsehen - und nehme einen Schluck von meinem Mangosaft.
Kairo wacht derzeit jeden Tag zu einer neuen nationalen Tragödie auf. Die Muslimbruderschaft will jeden Tag dieser Woche demonstrieren. Bewaffnete Angriffe auf Kirchen oder Polizeistationen gehören zu ihrem Demonstrationsrepertoire. Die Polizei hat angekündigt, keine Demos der Bruderschaft zuzulassen, und erwägt auch wieder ein Verbot der Muslimbrüder. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte wird sich also auch nicht ändern.
Sammy Khamis
"This needs to stop", das sind die Worte, mit denen Mohamed von 6th of April sich verabschiedet. Es ist halb sieben in Kairo, viele essen jetzt erst zu Mittag. Doch die Ausgangssperre zwingt jeden, ab sieben das Haus nicht mehr zu verlassen. "This needs to stop - take care", Mohamed steigt ins Taxi und fährt davon. Die Menschen gehen in ihre Häuser, machen sich Abendessen und schauen nebenbei im Fernsehen, wie ein Regierungssprecher von legitimer Antwort auf den Terror der Muslimbrüder spricht und dazu Bilder von bewaffneten Islamisten gezeigt werden.
Sammy Khamis, FM4 Reporter in Kairo, twittert unter @Sammysmsm
Mohameds Worte hängen noch in der Luft, als ich mich nach Hause aufmache. "This needs to stop" ist eine Forderung. Umso mehr ich darüber nachdenke, ist es aber auch ein Wunsch. Hoffentlich erfüllt er sich.