Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Dekrete, Demonstrationen und eine neue Verfassung"

Sammy Khamis

Are you serious...

15. 12. 2012 - 13:00

Dekrete, Demonstrationen und eine neue Verfassung

Heute stimmen Ägypter über eine neue und umstrittene Verfassung ab. Handelt es sich dabei um einen Scheideweg, oder eine weitere Etappe auf dem Weg zu einem demokratischen Staat?

Zu behaupten, die neue ägyptische Verfassung wäre umstritten, ist eine maßlose Untertreibung. Diese Verfassung ist vielen Ägyptern ein Dorn im Auge. Zum einen sind da die Liberalen, denen einige Artikel aufstoßen. Frauenrechte wären nicht eindeutig geklärt, Freiheitsrechte zu schwammig formuliert. Zum anderen geht die Verfassung den ultrakonservativen Salafisten nicht weit genug. Heute und am 22. Dezember können insgesamt 51 Millionen Ägypter an den Wahlurnen für oder gegen die Verfassung stimmen.

Weil die entgegengesetzten Gruppen, also Liberale und Salafisten, dem Entwurf nicht oder nicht in vollem Maße zustimmen, heißt dies jedoch nicht, dass die Verfassung ein Gesetzestext "der Mitte" ist. Im Gegenteil: 100 Mitglieder (v.a. Männer) haben die Verfassung ausgearbeitet, abgestimmt haben aber nur 85 Abgeordnete, vor allem Mitglieder der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbruderschaft. Im Hauruck-Verfahren haben sie ein Grundgesetz beschlossen und dem ägyptischen Volk zur Abstimmung vorgesetzt. Das war am 30. Nobember.

Im Hauruck-Verfahren zur Verfassung

15 Tage später: die meisten meiner ägyptischen (Facebook-)Freunde haben ihr Profilfoto geändert. Zu sehen sind keine Gesichter mehr, sondern eine weiße Schleife auf rotem Hintergrund. Diese "Schleife" steht für das arabische "Nein". Nein zu Verfassung. Nein zur Muslimbruderschaft.

Khamis

Nein zur Verfassung auf Facebook

Und nein zum Präsidenten Mohamed Mursi. Denn in den vergangenen 15 Tagen ist in Ägypten noch mehr passiert: Das Land hat sich als außenpolitische Größe in der Region etabliert, indem es im Gaza-Konflikt vermittelte, während Mohamed Mursi sich autokratisch zum Mini-Mubarak auf Zeit erklärt hat (mittlerweile jedoch auf einige Befugnisse verzichtet). Die liberale Opposition hat sowohl den Verfassungsentwurf, als auch Mursis Schachzüge mit anhaltenden, teils gewalttätigen Protesten begleitet. Das nahmen einige Journalisten zum Anlass, um in Ägypten einen "Bürgerkrieg" herbei zu schreiben, oder von einer "tief gespaltenen" Nation zu berichten.
So stellen sich zwei Fragen: Befindet sich Ägypten wirklich an einem Scheideweg? Und natürlich: Wie wird das Referendum ausgehen?

Khamis/ Park15

Ägypter nach ihrer dritten von vier Wahlen innerhalb von zwei Jahren; das heutige Referendum ist Nummer vier (Mai 2011)

Scheideweg oder weiterer Schritt Richtung "Neues Ägypten"?

Die beiden großen englischsprachigen Zeitungen Al Ahram online und Al Masry al Youm bringen live Updates der Wahl auf ihren Homepages

Beginnen wir mit der zweiten Frage: Für den Kairo-Korrespondenten Karim el-Gawhary ist es wahrscheinlich, dass die Verfassung angenommen wird. Er sieht die Stärke der Moslembrüder darin begründet, dass sie "bis im letzten Winkel Ägyptens mobilisieren." Ein "Ja" zur Verfassung wird dadurch immerhin wahrscheinlich, so el-Gawhary. Die Proteste in den Städten gegen die Verfassung spiegeln nur einen Teil der Gesellschaft. Bei einem "Nein" im Referendum bräuchte Ägypten eine neue Verfassung. Diese wollen die treibenden Kräfte der Opposition in einem "nationalen Dialog" aushandeln, bzw. die bestehenden Gesetzestexte anpassen, um einen "liberal and secular state" zu garantieren, wie der Oppositionsführer Mohamed el Baradei sagt.

Eine gültige Verfassung ist Voraussetzung für neue Parlamentswahlen und für die Herstellung der gegenseitigen Kontrolle der politischen Institutionen im Land. Präsident Mohamed Mursi regiert seit Sommer ohne Parlament, ohne gültige Verfassung (die seine Kompetenzen festlegen würde) und mit einer geschwächten Judikative. Mit einem ratifizierten Grundgesetz, so Anhänger Mursis, würde politische Ordnung und Stabilität wieder hergestellt werden.
Damit spielen Mohamed Mursi und die Moslembruderschaft eine gewichtige Karte. Denn Ägypten im Jahr zwei nach der Revolution kommt weder zur politischen Ruhe, noch erholt sich die stark schwächelnde Wirtschaft. Viele der "Ja"-Stimmen im Referendum werden der Tatsache geschuldet sein, dass man sich endlich Ruhe wünscht. Ob diese unter Regentschaft Mohamed Mursis wirklich eintreten wird bezweifelt der Abdul-Rahman Hussein: "in times of political turmoil", sagte der Guardian-Journalist angesichts der massiven Demonstrationen vergangene Woche, "the moslembrotherhood have proven only one thing when it comes to restore peace and calm: that they are incredibly shitty at it."

Khamis/ Park15

380.000 Polizisten und Militärs bewachen heute das Referendum (Mai 2011)

Verfassung: Vertrag zwischen Volk und Staat

Steht Ägypten nun vor einem Scheideweg? Bestimmt nicht. Denn Ägypten ist nicht "geteilt". Es handelt sich vielmehr um eine ausdifferenzierte und heterogene Gesellschaft, die sich in einem dynamischen politischen Prozess befindet. Heute debattiert Ägypten darüber, was unter Mubarak allzu lange gedeckelt und unter den Tisch gekehrt wurde. Diese Dynamik lässt sich keinesfalls durch eine Verfassung zementieren, allerhöchstens kurzzeitig verlangsamen.
Denn eine Verfassung ist kein Kanon an Gesetzen, die strikt befolgt werden müssen. Eine Verfassung ist ein Vertrag zwischen Volk und Staat. Solange in Ägypten noch kein Konsens darüber herrscht, wie die "Republik Ägypten" in Zukunft aussehen wird, ist jede Verfassung nur vorläufig und wird weiter angepasst werden müssen.

Auch wenn 100 Menschen ein Grundgesetz schreiben, gelebt wird eine Verfassung von 82 Millionen Menschen. Oder wie Karim el-Gawhary heute auf Facebook schrieb: "Auch wenn es ein turbulenter Prozess ist, mit zwei Schritten vor und einem zurück, die Ägypter wachsen politisch mit jedem Tag."