Erstellt am: 12. 4. 2013 - 18:39 Uhr
Demokratie einmal anders
Was ist Demokratie?
Der Demokratie-Schwerpunkt auf FM4 vom 8.4. bis 13.4.2013.
Demokratie in der Krise?
Robert Misik und Vedran Dzihic im Interview.
Demokratie einmal anders
Das Budget von den BürgerInnen oder Verfassungsentwurf als "Open Source"? "Innovative Demokratie" ist in Österreich wenig verbreitet.
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Über 1000 Einzelschäden warten auf die millionenschwere Renovierung.
FM4 Wahltage
Was verändert meine Stimme? Welches Wahlsystem funktoniert wie? Wir stimmen ab, eine ganze Woche lang:
Orçamento Participativo, zu Deutsch Bürger- oder Beteiligungshaushalt nennt sich das Modell, das sich von Porto Alegre aus über die ganze Welt verbreitet hat: Seit 1989 wird in der südbrasilianischen Stadt das Budget nicht mehr allein von PolitikerInnen verteilt, die BürgerInnen entscheiden mit über den Etat. Natürlich nicht einfach so, es gibt ein genaues Procedere, das zehn Monate dauert, mit Basisversammlungen, Delegierten-Versammlungen und einem Rat, der eng mit dem Gemeinderat von Porto Alegre zusammen arbeitet. Die endgültige Verabschiedung des Haushalts bleibt die Aufgabe der gewählten PolitikerInnen, aber im Vorfeld arbeiten bis zu 20.000 Menschen am Entwurf mit - und jeder neue Budgetprozess beginnt mit einem Rechenschaftsbericht über das Vorjahr.
Baltazar - Fotolia.com
Seit 1989 hat sich die Idee auf der ganzen Welt verbreitet, in vielen brasilianischen Kommunen, aber auch in skandinavischen, deutschen oder französischen Städten und Gemeinden werden zumindest Teile des Haushalts in einem partizipativen Prozess vergeben. Hierzulande erstellt lediglich die oberösterreichische Gemeinde Vorderstoder ihr Budget seit zwei Jahren mit Beteiligung der BürgerInnen.
"Vor allem der erste Schritt, das Budget für Normalbürger überhaupt lesbar zu machen, war ein enormer Aufwand." sagt Bürgermeister Gerhard Lindbichler (ÖVP), "Aber für uns ist es eine Möglichkeit, mit den immer knapperen Ressourcen umzugehen und uns neue Handlungsspielräume zu schaffen."
Die Bürgerverfassung
Auch in Island ging es vor zweieinhalb Jahren darum, das Vertrauen und die Mitarbeit der BürgerInnen wieder zu gewinnen. Die Finanzkrise hatte das Land als erstes an den Rand der Staatspleite geführt, die klassischen Parteien hatten jeden Kredit beim Volk verspielt, und in Reykjavik wurde ein Komiker zum Bürgermeister gewählt.
In Island wurde im Jahr 2010 ein Verfassungsrat installiert, der über einen Entwurf zu einer neuen Verfassung beraten hat. Die Beratungen wurden im Internet gestreamt, auf Facebook und anderen Orten konnte jeder Bürger und jede Bürgerin die einzelnen Punkte diskutieren und Anregungen geben. Auch wenn es, trotz einer positiven Volksabstimmung, heute fraglich ist, ob die Verfassung auch wirklich in Kraft treten wird, sieht Sieglinde Rosenberger, Professorin für Politikwissenschaft an der Uni Wien, den Prozess als Erfolg:
"Ich glaube, dass es langfristig gesehen ein sehr positives Projekt war, weil die Bürgerinnen und Bürger wieder begonnen haben, sich mit der Gesellschaft und ihrer Politik zu identifizieren. Die Identifikation ist immens wichtig, weil sonst ein Vakuum entsteht, und wir wissen nicht, wer in dieses Vakuum einbricht, vermutlich eher rechte, rechtsextreme Kräfte."
José Ramón Otero Roko
Partizipation vs Populismus
Eine Vertrauenskrise spürt auch die österreichische Politik - obwohl es in den letzten Jahren einige Maßnahmen gegeben hat, um die Demokratie bürgernäher zu machen: das Wahlalter wurde gesenkt, die Briefwahl eingeführt, Österreich ist führend im Bereich des e-Government - das alles hat allerdings nicht zu mehr Wahlbeteiligung und auch zu keinem besseren Image der Politik geführt. Die Debatten um mehr Bürgernähe sind deshalb nicht verstummt, allerdings geht es dabei fast ausschließlich um die Direkte Demokratie - also Volksabstimmungen und -befragungen.
Sieglinde Rosenberger hält das prinzipiell auch für sinnvoll, aber nicht für ausreichend. Innovative Demokratie setzt im Gegensatz zu Direkter Demokratie nicht auf Ja/Nein- und Mehrheitsentscheidungen, sondern auf Konsens. "Das braucht andere Verfahren, wo man sich zu strittigen Themen auf halbem Wege trifft und Kompromisse findet, die dann auch von der unmittelbar betroffenen Bevölkerung mitgetragen werden." Wobei "Bevölkerung" dezidiert nicht nur den wahlberechtigten Teil meint, sondern durchaus inklusiv alle in der jeweiligen Region lebenden Menschen.
Solche Verfahren müssen gut überlegt sein, damit sie funktionieren, das geht schon bei der Auswahl der TeilnehmerInnen los. Damit nicht einzelne Gruppen die Diskussion kapern, sollen sie aus möglichst vielen unterschiedlichen sozialen Gruppen kommen. Weil die Menschen auch keine Fachleute sind, muss die Debatte von ExpertInnen mit fachlichen (z.B. juristischen) Informationen beliefert werden, um eine informierte und differenzierte Diskussion und ein konstruktives Ergebnis zu ermöglichen.
Zurückhaltung in Österreich
Dass Vorderstoder derzeit noch der einzige österreichische Ort mit einem Bürgerbudget ist, verwundert Sieglinde Rosenberger nicht. Zwar gibt es Bürgerbeteiligungsmodelle nicht nur im Budgetbereich, sondern auch für Infrastrukturprojekte, in Konfliktfällen oder um Menschen, die im normalen politischen Alltag nicht zu Wort kommen, zu inkludieren - manche Gemeinden haben zum Beispiel Jugendräte. Aber insgesamt sind österreichische PolitikerInnen vergleichsweise zurückhaltend, was partizipative Modelle angeht.
"Ich denke das liegt auch an der besonderen politischen Kultur in Österreich", meint Sieglinde Rosenberger. "Österreich war Jahre lang ein Beispiel für die Einbindung organisierter Interessen - Stichwort Sozialpartnerschaft. Heute fühlen sich allerdings nicht mehr alle von den Interessensvertretungen vertreten, damit kommt es zu einem Vakuum und zu Misstrauen. Es gibt also eine Konsenskultur, die zu einem Ende gekommen ist, und gleichzeitig den Frust, die Erfahrung von Defiziten an Beteiligung auf der individuellen Ebene."
In der Gemeinde Vorderstoder ist es gelungen, dieses Vertrauensvakuum aufzufangen. "Die Menschen bringen sich wieder ein, nicht nur beim Bürgerhaushalt, sondern in vielen anderen Projekten", erzählt Bürgermeister Lindbichler. "So profitieren wir heute vor allem davon, dass die Gemeinde wieder mehr eine Gemeinde im ursprünglichen Sinn ist."