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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

20. 8. 2010 - 22:05

Ich möchte Teil einer Festival-Bewegung sein

Wir marschieren weiter: Beim FM4 Frequency Festival mit Portugal. The Man, Wallis Bird, Serj Tankian, Delphic, We Are Scientists, Yeasayer und Tocotronic.

Den Besuch eines Festivals ist wie eine Reise in den Amazonas. Sie bedarf genauer Planung und das Wetter kann übel mitspielen. Und zudem beinhaltet auch ein Festival Anstrengung: Das Pilgern von einer Bühne zur nächsten, die Ellbogen-Taktik, um in die vorderen Reihen zu gelangen und das Stehvermögen in den langen Schlangen vor den Toiletten. Leider ist der große Sportplatz hinter der Green Stage abgesperrt: Er würde zum Konditionstraining einladen. Voraugesetzt man hat den gestrigen Tag ohne größere Nachwirkungen hinter sich gebracht.

Postcore-Helden und eine irische Kämpferin

Der erste Slot auf der Green Stage gehört traditionell den jungen Wilden. Gestern durften dort Kommando Elefant ihre bezaubernden Pop-Perlen durch die Soundboxen blasen, heute sind es Evil Mopped aus Schwechat, die sich ihren Platz hart und fair in einem Band-Contest erkämpft haben. Der Name stammt von der Manga-Spielkarten-Serie Yu-Gi-Oh: Die Serie dreht sich um einen Jungen, der mit einem Puzzle den Geist eines Pharaos befreit und mit diesem dann die Welt vor dem Untergang bewahren muss. Eine ähnlich ambitionierte Aufgabe haben sich die vier Herren aus Schwechat gesetzt. Ihre Waffe: Punk-Rock mit Texten über Liebe und Party. Na dann, toi, toi, toi!

Portugal. The Man kann man als alte Haudegen der Postcore-Szene bezeichnen. Die Band rund um John Baldwin Gourley ist zwar aus Alaska, die Pelzmützen haben Portugal. The Man am heutigen Tag aber daheim gelassen. Stattdessen haben sie sich in eine Nebelwand gehüllt, aus der sie diabolisch und süßlich zugleich hervorspähten Portugal. Ich habe ein Herz für Bands, die sich von den Proben in ihrer Garage mühevoll und hart zu ihrem ersten Plattenvertrag mausern. Portugal. The Man ist eine Highschool-Band namens Anatomy Of A Ghost voraus gegangen, mit der man durch die Lande zog und mühevoll jeden Dollar sparte, um sich Aufnahmen im Tonstudio zu leisten. Mir wurde erzählt, dass die Band nach jedem Konzert durchfeiert bis die Sonne aufgeht. Das nenne ich mal angemessene Arbeitsmoral.

Die Hardcore-Einflüsse, mit deren dreckigen Relikten das Quartett grandios spielt, mixen Portugal. The Man mit Soul, Emo und tanzbarem Elektrorock, bis am Ende etwas rauskommt, das keine Genre-Zugehörigkeit mehr verdient. Manche würden es "The Mars Volta in melodisch" oder "die neuen Pixies" nennen, aber egal wie man es bezeichnen will: Es passt. Auf der Green Stage trumpfen Portugal. The Man mit Songs ihres 2009er-Albums "The Satanic Satanist" auf, stellen aber auch neue, baldige Indie-Hits aus dem 2010-Werk "American Ghetto" vor. Die Mischung aus engelsgleichen Vocals mit derbem Gitarrensound und melodischen Keyboardpassagen geht durch die Knochen und zupft an dem zarten Flaum, der sich dank Gänsehaut gen Himmel richtet. Eingängig, sommerlich lässig, Portugal. The Man.

Mit einem Schrecken beginnt die Karriere von Wallis Bird. Alle fünf Finger der linken Hand werden ihr bei einem Unfall mit einem Rasenmäher abgetrennt. Vier davon werden ihr wieder angenäht. Was einen schon jetzt wie der erste kalte Wasserstrahl aus der Dusche zum Erzittern bringt, ist nur der Anfang. Die Irin gibt nämlich nicht auf: Sie lernt mit einer Rechtshänder-Gitarre zu spielen, aber sie hält die Gitarre dabei verkehrt. Auf diese Weise entwickelt sie ganz eigene Grifftechniken, die ihr ein filigranes Gitarrenspiel ermögen, das man so noch nie gehört hat.

Und ich muss zugeben, ich habe auf sowas seit gestern gewartet: Fattenreicher Folk-Rock, der an KT Tunstall oder Ani DiFranco, ja selbst vereinzelt an die junge Tori Amos erinnert. Die großartige Begleitband zu viert harmoniert dabei grandios mit dem unberechenbaren Gitarrenspiel und dem kraftvollen, leidenschaftlichen Gesang der Wallis Bird. Dazu passend: Sonnenblumen und Tröten, die wie Enten klingen. Songs ihres Debüts "Spoons" harmonieren mit dem neuen "New Boots". In ihrem Set legt die 1,60m kleine Irin ihre Niedlichkeit etwas ab und dreht dafür den Verstärker von der ersten Nummer ihres Sets an voll auf. Wallis Bird ist durch eine harte Schule gegangen: Erste Gigs spielt sie in irischen Pubs in ihrer Heimatstadt, wo sie von besoffenen männlichen Besuchern auf das Übelste angemacht wird. Die beste Ausbildung für Festivals, ein Konditionstraining der anderen Art.

Diabolischer Magier und the new hot shit

Mein Kollege Michael Fiedler hat hier das FM4 Frequency Festival mit dem Burning Man verglichen: Zwei Veranstaltungen, die sich zumindest in einigen Punkten ähneln: die Freizügigkeit und die Akzeptanz und Toleranz jedes Individuums. Nicht zu vergessen, die Ähnlichkeiten mit einem Jahrmarkt voller bunter und skurriler Schauplätze. Und jeder Jahrmarkt braucht seinen Magier. Das FM4 Frequency hat Serj Tankian.

Den System Of A Down-Sänger stelle ich mir gern als grinsenden Hutmacher aus "Alice in Wonderland" vor, wie er über die Weltherrschaft nachdenkt und dabei seinen langen Ziegenbart genüßlich wie einen Fuchsschwanz streichelt. Ähnlich wie Johnny Depp in Tim Burtons Inszenierung erzählt Tankian in seinen Texten von einer apokalyptischen Zeit, in der das Chaos regiert. Abseits seiner Kollegen von SOAD hat der in Beirut geborene Tankian eine eigensinnige Solo-Karriere hingelegt. Er drehte Filme über den armenischen Genozid und veröffentlichte sozialkritische Gedichtbände. Jüngst spielte er im Linzer Brucknerhaus eine dramatische Oper mit Orchester aus seinem Album "Elect The Dead Symphony", das an sein 2007er Album "Elect The Dead" anschließt. In diesem Jahr präsentierte Tankian sein neuestes Panoptikum: "Imperfect Harmonies".

An diesem Tag ladet Tankian in sein Zelt der Absurditäten und holt das Bruckner Orchester Linz gleich dazu. Ein Orchester auf einer Festivalbühne ist eine Herausforderung, nicht nur für den Sound. Aber Tankian beherrscht sein Handwerk. Erhaben, opulent, pompös, dann wieder überraschend minimalistisch und ans Komische grenzend: So präsentiert sich Serj Tankian beim FM4 Frequency. Dazwischen streut er auch die eine oder andere Rede über die Grundwerte der Demokratie ein. Tankians Bühnenpräsenz, Stimme und Mimik ermöglichen, dass das Konzert einmal wie eine dramatische Oper wirkt, nur um dann im nächsten Moment in eine bizarre Operette oder aberwitzigen Zirkus umzuschlagen. Tankian ist dabei das Bindeglied zwischen seinem Orchester: Mal tänzelt seine Stimme im höchsten Falsett auf dem Drahtseil, dann krächzt sie und schreit sich bei Songs wie "Sky Is Over" und "Empty Walls" die Seele aus dem Leib. Ein seltsamer Auftritt: Wie beim verrückten Hutmacher sind Tankians Kompositionen nie zu fassen und überraschen mit ungewöhnlichen Akkordabfolgen und schnellen Tempowechseln. Imperfect Harmonies eben. Und wie ein Magier ist Tankian genauso schnell verschwunden, wie er erschienen ist.

Gestern tänzelten noch Hot Chip mit ihrem kristallinen Klangkosmos über die Bühne, heute haben wir den Hot Shit in Form von Delphic aus Manchester. Manchester, da denkt man automatisch an britische Pubs und Oasis. Delphic sind da etwas anders: Ihr Klangkosmos ist eher an Bloc Party orientiert, mit eingängigen Gitarrenriffs und schneidigen Beats erzählen sie von Euphorie und düsterer Vorahnung. Ihr Debüt "Acolyte" haben sie in einer Hütte im englischen National Lake District aufgenommen. Das schreit schon nach Naturverbundenheit. Aber ganz im Gegenteil: Bei Delphic habe ich immer das Gefühl, dass ihre elektronischen Popsongs wie ein Aufschrei im digitalen Zeitalter sind. Die menschliche Stimme von James Cook wirkt dabei wie in ein digitales Modul eingebettet: synthetisch trifft auf menschlich und umgekehrt.

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Auch bei ihrem Auftritt auf der Green Stage tranportieren Delphic diese Problematik des Verbundenseins in der digitalen Welt, das ewige Erreichbarsein, die Kommunikation an allen Orten, die Möglichkeit in 3 Minuten auf Wikipedia den Inhalt eines ganzen Romans zu lesen. Der Song "Clarion Call" etwa verbindet alles: Synthie-Flächen, Clicks-and-Cuts und sphärischem Vocals bis zu einem großen Finale, das plötzlich abbricht. Das ist modern, das ist hier und jetzt. Das ist aber auch rätselhaft. Übrigens die englische Übersetzung von "delphic".

Say Yea! Say Yea!

Auf Yeasayer freute ich mich besonders. In einer kürzlich gelesenen Rezension wurden sie als "Enya with Dance" beschrieben und außerdem geben sie selbst an, stark von Phil Collins, Cindy Lauper und Prince beeinflusst worden zu sein. Das stellt schon mal einige Fragen in den Raum: Phil Collins "Face Value"-Ära oder doch schon "Tarzan-Soundtrack"? Enya verbinde ich auch eher mit Badewanne und Kerzenschein, ganz ähnlich wie die Szene in The Big Lebowski, in der der Dude von einem Marder angegriffen wird.

Der Bastel-Pop auf "Odd Blood" hat aber wenig mit solchen Asssoziationen zu tun. Das retrofuturistische und globalisierende Debüt von Yeasayer, "All Hour Cymbals", war noch belächelnd unter der Rubrik "Weltmusik" im Plattenschrank eingeordnet worden, aber mit "Odd Blood" gelingt Yeasayer der große Wurf. Auf der Green Stage laden die Burschen aus Brooklyn, New York zum Tanzen ein: Trance Intros bis zum Umfallen und ewiger Rave bei blinkenden Lichtern. "O.N.E" ist für mich der Song schlechthin dieser Band, der in ihrem Set alle Reminiszenzen der 80er hervorholt: Talking Heads, Peter Gabriel, UB40, Soft Cell, sogar Ultravox. Die Discokugel dreht sich dabei so schnell, bis man das Bewusstsein verliert. Auf diese Weise entstehen die Leerstellen in einer vernetzten Welt.

Gerüchten zufolge ist es unmöglich, mit We are Scientists ein vernünftiges Interview zu führen, weil sie den Interviewer ständig auf den Arm nehmen. Auch ihre Band-Biografie ist voller Lügen und erfundenen Anekdoten. Und der Bandname soll ja bei so einer Anekdote entstanden sein: Die Jungs räumen ihre Instrumente und ihr Hab und Gut zum Umzug in einen Möbelwagen und weil man sich eben so verdammt ähnlich sieht, fragt ein Möbelpacker: "Are you brothers?". Die Antwort: "No, we are scientists." Vielleicht ist das auch diese gehörige Portion Sarkasmus und Ironie, die man auch in musikalischen Gefilden von den drei New Yorkern geliefert bekommt.

Einer großen Portion kanalisierte Hysterie, ein wohl organisierten Großangriff auf die Tanzmuskeln: So präsentieren sich We are Scientists live auf der Green Stage. Zu großartigen Melodien ist die Band fähig, bei denen man kopfnickend seine Zustimmung bekunden kann. Dazu eignen sich vor allem die Songs ihres Debüts "With Love And Squalor", aber auch Nummern der neuen Scheibe "Barbara". Dazwischen wird immer wieder mal von sexual intercourse in all seinen Varianten geredet und ein Schuh eingesammelt, der hartnäckig für ein Jahr behalten wird. Motto des Sets: "Don´t Move, Nobody Get Hurt". Sag das mal einer kopfnickenden Festival-Crowd.

Im Zweifel für Tocotronic

Massive Attack vs. Tocotronic. Das ist das Match der Titanen am heutigen Tag auf den beiden Bühnen. In der einen Ecke die düsteren Sounddesigner aus Bristol, in der anderen die verkopften Intellektuellen, die Nostalgie-Band für alle Über-Dreißiger, wie es Philipp L'Heritier einst formuliert hat. Meine musikalische Sozialisierung fand eher mit Massive Attack statt: zu der Orchestrierung von "Unfinished Sympathy" bin ich traurig auf der Mariahilfer Straße spazieren gegangen, ähnlich im eigenen Kosmos eingeschlossen wie Shara Nelson im dazugehörigen Video oder viel später Richard Ashcroft in "Bittersweet Symphony". Symphonien verlangen eben den Marsch nach vorne. Denn hier leben, nein danke.

Zu Tocotronic kam ich erst viel später, als sie schon ihren Alterungs- und vor allem Reifeprozess begonnen hatten. Als der Ruf nach Kapitulation nur noch ein ironisches Faust-in-die-Luft-strecken-is-eh-schon-wurscht war und keine Ideologie mehr, die nach Befreiung und Emanzipation für irgendeine Altersgruppe stehen könnte. Das Ich bei Dirk von Lowtzow ist schon lange kein lyrisches mehr, bei dem sich die SPEX-RedakteurInnen austoben können, sondern einfach das Ich des Popsongs: eine Sichtweise, die multiperspektivisch auf alle Hörer zutreffen kann, egal ob "Bobo" oder nicht. Ihr neuestes Werk "Schall und Wahn" ist ein reifes Kunstwerk, auf dem sich Tocotronic schon lange von ihren Übungsräumen verabschiedet haben, in denen sie vor Jahren noch wild ihre Parolen an ihre Denkmäler schmierten, um stattdessen detailliert arrangierte Kompositionen vorzulegen. Hamburger Schule ist tot, es lebe die Hamburger Schule.

Während drüben auf der zweiten Bühne die Bässe wummern und die Visuals blenden, konzentrieren sich von Lowtzow und Konsorten auf die Verblendung ihres eigenen Werkes. Es beginnt mit "Eure Liebe tötet mich" und führt zu "Die Folter endet nie" und "Verschwör dich gegen dich". "Macht es nicht selbst", "Let There Be Rock", "Im Zweifel für den Zweifel" - Parolen bleiben Parolen, aber dieses Mal hauen Tocotronic damit um. Vielleicht weil ein Festivalauftritt keine Intimität zulässt, sondern man im Schweiß der einem umringenden Personen badet. Weil man nicht unbedingt mit einer Band alter muss, um ihr Alter schätzen zu können. Im Zweifel für Zweifel. Und wohl heute auch für Tocotronic.