Erstellt am: 8. 9. 2016 - 18:24 Uhr
Venedig: Wenn Natalie Portman Trauer trägt
Das Festival geht in die Zielgerade. Viele internationale Gäste aus der Branche sind bereits zum größten Filmmarkt Nordamerikas, dem Mekka für Filmdealer, dem TIFF in Toronto weiter gepilgert, während Regisseur Pablo Lorraín in seinem Wettbewerbsbeitrag „Jackie“ das vornehm zurückhaltende Medienbild einer heiligen US-Stilikone umschreibt.
Natalie Portman verleiht der Witwe des amerikanischen Präsidenten kurz nach den tödlichen Schüssen von Dallas im November 1963 ihr aufgelöstes Gesicht in einer Serie von Close ups. Jackie Kennedy offenbart sich da kettenrauchend und sichtlich gezeichnet von einem posttraumatischen Stresssyndrom in einem intimen Interview. Dieses 1964 tatsächlich geführte Gespräch mit dem Pulitzer-Preisträger Arthur Schlesinger wurde erst vor wenigen Jahren veröffentlicht.
William Gray
Aufdringliche Performance einer Stilikone
Filmfestspiele in Venedig
Li Li Lidoland Musical-Stars Ryan Gosling und Emma Stone eröffnen die Filmfestspiele.
Tiere im Todeskampf Gespräch mit Ulrich Seidl zu "Safari"
Das Tier im Menschen hält durch
"Safari", "Nocturnal Animals" und "Brimstone"
"One more time with feeling"
Die wundersame Operation am offenen Herzen von Nick Cave.
Wenn Natalie Portman Trauer trägt
"Jackie" portraitiert Jacqueline Kennedy.
Und: mögliche Favoriten
Goldener Löwe für Lav Diaz
Preisträger 2016
Mit dieser historischen Rahmenhandlung blickt das Bio-Picture hinter die Kulissen des Weißen Hauses und seine von Pietät und Trauer unbeeindruckten Politprotokolle. „Jackie“ ist komplexes Porträt von einem unbekannten emotionalen Ausnahmezustand einer bekannten Persönlichkeit. Die beliebte Jackie Kennedy stand, wie das gesamte Land, nach der Ermordung von JFK unter Schock. Als die Schüsse fielen, saß sie neben ihrem Mann. Der mächtige Apparat um das Oval Office wollte schnelle Entscheidungen treffen. Kaum war sein Vorgänger tot, soll Vize-Präsident Lyndon Johnson gnadenlos flott in der Airforce One auf seine Angelobung gedrängt haben. Da taumelte Jackie Kennedy im blutverschmierten Kostüm gerade noch durch dieselben Flugzeugreihen.
Der Ablauf des Begräbnisses und der rasche Auszug der ehemaligen First Lady aus dem Weißen Haus musste rasant organisiert werden. Während Jackie sich für die Choreographie der Beisetzung durch Bücher zu Lincolns öffentlicher Trauerzeremonie inspirieren hat lassen, hat sie auch ihre Kisten gepackt. Ihre Nachfolgerin Lady Bird Johnson scharrte mit Stoffmuster-Mappen einen Gang weiter in den Startlöchern für ihr neues Zuhause. Dieses hatte Jackie erst zwei Jahre zuvor neu definiert und dem US-Fernsehen präsentiert.
March 24, 1961 - New First Lady Jacqueline Kennedy interviewed by Sander Vanocur
Pablo Lorraín („El Club“) stellt diesen TV-Auftritt nach. In „Jackie“ konterkariert das aufkommende moderne Medienzeitalter den tragischen Seelenzustand ihrer Society-Protagonistin Jackie Kennedy. Dass sich Lorraín in seiner ersten englischsprachigen Produktion weniger für durchgenudelte JFK-Attentat-Suspense interessiert, sondern für die Kehrseite von Images, macht „Jackie“ interessant. Nicht so Natalie Portmans dominantes Overacting. Das kann zur Spekulation rühren, dass die Oscar-Preisträgerin beim überehrgeizigen Studieren von Originalbildmaterial ihrer Figur zu müde wurde, um noch etwas Eigenes ihrer Darstellung hinzuzufügen.
Die britische Musikerin Mica Levy („Micachu“) konnte in Jonathan Glazers Alien-Werk „Under the Skin“ mit ihrer betörenden Komposition für die atmosphärischen Höhepunkte eines vergangenen Kinojahrs sorgen. In „Jackie“ spielt Levy nun mit minimal verstörendem Klavier- und Streicherbombast gegen die classy konservative Jackie Kennedy an. Doch auch Mica Levy hat hier zu dick aufgetragen.
Der weibliche Tarantino und Ace of Base als Sound für Menschenfresser
In einem comichaft überzeichneten Inferno irgendwo zwischen Exploitation-Romance und Eye-Candy-Mad-Max Szenarie angelegt, hat Ana Lily Amirpour nach ihrem iranischen Vampir-Spaghetti-Western-Debüt „A Girl walks home alone“ mit „The Bad Batch“ im Wettwerb von Venedig so richtig aufgedreht. Manche sehen in ihr bereits den nächsten Tarantino. Die Amerikanerin mit persischen Wurzeln sieht sich selbst lieber in der surrealen Tradition des chilenischen Kino-Mystikers Alejandro Jodorowsky („El Topo“).
The Bad Batch / Filmfestspiele Venedig
Die Polizei setzt die toughe Arlen (Suki Waterhouse) in der texanischen Wüste aus. Die jugendliche Deliquentin wie auch andere böse Outlaws überlässt der Kannibalen-Western „The Bad Batch“ lieber sich selbst als der strengen Hand des Gesetzes. Menschenfresser mit Bodybuilder-Statur und einem Faible für den 80er-Jahre Diskotheken-Hauer „All that she wants“ haben Arlen die Laubsäge angesetzt. Ihr Oberarm und ein Unterschenkel sind verspeist. Der Rest ihres quicklebendigen Körpers liegt gefesselt in Eisenketten und Eigenkot in einer schrottigen Trailerpark-Community. Es wird nicht das einzige Mal sein, dass sich Arlen als amputierter Outlaw aus dieser Scheiße stemmt.
Amirpour teilt sich zumindest mit Kollegen Tarantino das Talent, aktuell eher untergehende Hollywood-Sterne wiederzubeleben: Ein schnauzbärtiger Keanu Reeves im weißen Playboyanzug verkörpert einen irrwitzigen Drogen-Baron. Seine hoch schwangere bis auf die Zähne bewaffnete Frauenarmee wird Arlen auf ihrer nächsten Station, den Post-Hippie-Wüstendorf „Comfort“ , brutal ausschalten. Jim Carrey ist als „Wüsten-Sandler“ ohne die Credits gelesen kaum zu erkennen.
Favoriten?
Als eine von nur zwei Regisseurinnen im Rennen um den Goldenen Löwen steht „The Bad Batch“ wohl nicht auf der Favoritenliste von Jury-Präsidenten Sam Mendes („American Beauty“, „James Bond 007: Skyfall“). Immer mehr Unkenrufe werden laut, der Sieger der 73. Filmfestspiele könnte ein schwarz-weißes (Nach-)Kriegsdrama werden. Davon gibt es zwei. Gestern hatte das KZ-Drama des Russen Andrei Konchalovsky das Publikum mit begeistertem Applaus und entgeisterten Buhrufen geteilt.
„Paradise“ rechnet mit dem mörderischen Narzissmus des „Übermenschen“ ab, der Konchalovsky an Hasstiraden der Rechten im heutigen Europa erinnert, wie der Regisseur vermerkt. Dem Regisseur mag ein filmisches Denkmal für couragierte Resistance-Kämpfer und Millionen unschuldig vergaster Juden vorgeschwebt sein. „Paradise“ bleibt aber bis in die kleinste Kleindarsteller-Performance eine theatralisch manierierte Parabel, die sicher nicht an ein provokantes Leinwandmonument gemahnt.
Paradise / Filmfestspiele Venedig
Francois Ozons melodramatische Zwischenkriegsstudie „Frantz“ hingegen, schlägt da schon mehr unberechenbare Hacken. Der Fremdenhass der Eltern bremst die junge Generation nach dem ersten Weltkrieg ihr Begehren zu lieben und zu leben.
Frantz / Filmfestspiele Venedig
Der französische Soldat Adrien besucht in einer kleinen deutschen Gemeinde das Grab des deutschen Soldaten Frantz. Die Verlobte des Toten, Anna (Paula Beer) und ihre Eltern treten in eine sich ständige wandelnde Beziehung zu dem geheimnisvollen Fremden. Ozon stößt dabei die Zuschauer samt vorgefassten Erwartungshaltungen immer wieder vor den Kopf. Dieses subtile Verwirrspiel zwischen Herz und Hirn in zwei Sprachen entpuppt sich nach vielen anderen Beiträgen zu den künstlerisch befriedigendsten Wettbewerbsarbeiten. Lose hat sich Ozon von dem weniger bekannten Ernst Lubitsch-Werk „Broken Lullabye“ inspirieren lassen. Der französische Regisseur nennt auch Michael Hanekes „Das Weiße Band“ im Interview als eine Referenz. Die Kritiker-Polls deuten auf den argentinischen „El Ciudadano ilustre“ als möglichen besten Film.