Erstellt am: 4. 9. 2016 - 14:52 Uhr
Das Tier im Menschen hält durch
Gestern verlief die Weltpremiere von Ulrich Seidls im Vorfeld heftig debattierter Dokumentation "Safari" ruhig. Wogegen sollte man bei dieser Beobachtung rund um Großwild-Jagdtouristen in Afrika denn protestieren? Doch sicher nicht dagegen, einen Film darüber zu machen. "Safari" setzt sich zunächst etwas schleppend in Gang. Wir sehen wiederholt deutsche und österreichische Urlauber während ihrer etwas langwierigen Pirsch auf Gnuns, Giraffen und Imbalas. Weiße Jagdführer und ihre schwarzen Assistenten instruieren sie flüsternd im Hintergrund. Im Vordergrund steht das zielsichere Töten von Großwild durch den zahlungskräftigen Touristen.
Stadtkino Filmverleih / Ulrich Seidl / Filmfestspiele Venedig
Filmfestspiele in Venedig
Li Li Lidoland Musical-Stars Ryan Gosling und Emma Stone eröffnen die Filmfestspiele.
Tiere im Todeskampf Gespräch mit Ulrich Seidl zu "Safari"
Das Tier im Menschen hält durch
"Safari", "Nocturnal Animals" und "Brimstone"
"One more time with feeling"
Die wundersame Operation am offenen Herzen von Nick Cave.
Wenn Natalie Portman Trauer trägt
"Jackie" portraitiert Jacqueline Kennedy.
Und: mögliche Favoriten
Goldener Löwe für Lav Diaz
Preisträger 2016
Ist das Tier einmal erlegt, umarmen die Europäer einander erlöst. Sie sprechen in pathetisch aufgeladenen Idiomen und Jägerlatein von erhöhtem Adrenalin-Spiegel und machen es sich dann für ein Smartphone-Foto auf dem erlegten Tier gemütlich. Ulrich Seidls gewohnt streng kadrierte Bildsprache öffnet sich in der afrikanischen Steppe durch die bewegte beobachtende Kamera von Wolfgang Thaler. Der klare Fokus liegt auf den weißen Menschen. Hauptsächlich auf einer Patchwork-Familie aus Oberösterreich. Diese Protagonisten quält kein Schuldgefühl. Über das Töten vom Löwen "abwärts" steigt höchstens die Lust aufeinander.
Solche Darsteller sind der klare Glückstreffer für "Safari", der wie eine soapige Familienaufstellung wirkt. Nur das der Zuschauer von der Realität eingeholt wird. Teenager werden bei der Jagd mächtig von ihren prahlenden Eltern initiiert. Tradierte Geschlechterrollen und Hackordnungen treffen in „Safari“ auf einen spätkapitalistischer und postkolonialistischen Gesellschaftszustand. Indem Seidl die afrikanischen Einheimischen meist passiv in einen statischen Bildrahmen zwängt, offeriert "Safari" dann doch mehr moralische Problematiken als vielleicht vom Publikum fantasiert. Schwarze, die vor ihren schäbigen Hütten Knochen erlegter Tiere abnagen oder Hausangestellte unter einer Galerie ausgestopfter Tierköpfe posieren, wirken dann doch wie filmische Ausstellungsstücke. Um die Trophäe des Goldenen Löwen in Venedig hat sich auch US-Fashion-Designer Tom Ford startklar gemacht.
Nocturnal Animals
Schon im Vorspann seines zweiten Regiefilms "Nocturnal Animals" macht Regisseur Tom Ford klar, dass er den leeren Zynismus der kalifornischen Kunst-Templer wie eine dunkle Wolke über seiner Hauptfigur, der kühlen Galeristen Susan Morrow zum Bersten bringen wird: Varianten an wabbelnden Speckfalten in Großaufnahme, verschmierter Lippenstift und nichts als ein wenig Partyglitter bedeckt die extrem übergewichtigen älterer Frauen. Nackt ziehen sie an den Gesichtern der Zuschauer in Slow-Motion vorüber. Darüber hängt fast irrwitzig in dicken roten Lettern der Name des Stars über der Leinwand - "AMY ADAMS". Die Kamera schwebt weiter und beobachtet von oben eine Ausstellungseröffnung. Die zuvor wie pensionierte New Burlesk-Tänzerinnen anmutenden Subjekten liegen nun in Los Angeles als lebende Objekte auf den Vernissagen-Podesten eines White Cubes.
Merrick Morton Universal Pictures International
Das Lebenselixier aus Schönheit und Erfolg gerät ins Stocken. Ihr Ehemann betrügt sie. Als ihr Ex-Mann Edward (Jake Gyllenhaal) ihr per Post seinen neuen Roman schickt, der noch dazu ihr gewidmet ist, rettet sie sich in seine verstörende Lektüre. Tom Ford inszeniert einen Film im Film. Der überästhetisierten glatten Arty-Fartsy-Oberflächen setzt "Nocturnal Animals" ein hartes mit viel Realismus stilisierten Roadmovie entgegen. Brutale Rache-Sequenzen aus der dreckigen texanischen Wüste samt diabolisch grinsender Vergewaltiger bringen die gemeinsame Vergangenheit mit einem Psychospiel zwischen dem Autor und seiner Leserin nicht immer rasant in Fahrt.
Zweifellos gelingt es aber dem Modemacher Tom Ford nach seinem Erstling "A Single Man" (2009) mit einer etwas zu dick aufgetragenen Leidensperformance von Jake Gyllenhaal dennoch seine unverwechselbar melancholische oberflächengesteuerte Film-Note weiter auszubauen. Übrigens Amy Adams rules! Jetzt umso mehr nach schon ihrem auratischen Part in Denis Villeneuves beeindruckenden Venedig-Sci-Fi-Erlebnis "Arrival".
Häusliche Gewalt gegen Frauen & die Rache der Extended Version
Am Samstag hatte der Holländer Martin Koolhoven mit der Westernhistorie "Brimstome" die Rachefeldzüge auf der Leinwand mit seinem ultrabrutalen Ansatz um 148 Minuten verlängert. Ohne im Vorfeld bei mir Erwartungen zu schüren, hat sich die Geschichte eines sadistischen Reverends (Guy Pearce), der seine Tochter (Dakota Fanning) misshandelt und jagt, zu einem eingängigen, kontroversiellen und überraschenden Torture-Horror entwickelt.
Brimstone/Filmfestspiele Venedig
Von Zunge ab bis den Erschossenen mit seinen eigenen Gedärmen zu meucheln, Koolhoven dekliniert die rohe Gewalt mit einer imposanten an Hollywood erinnernden Syntax durch. "Brimstone" findet eine ganze eigene und damit eigenartige Balance zwischen düsterem Mainstream-Realismus und einem B-Movie-Knicks. Mit blutig geistreichen Zitat-Esprit à la Tarantino hat "Brimstone" gar nichts zu tun, wohl mehr mit den Spaghetti-Western der Italiener, wenn Regisseur Martin Koolhoven in seiner ersten englischsprachigen Produktion dem Western-Genre seinen genuin niederländischen Stempel aufdrücken wollte. Fait Accompli.