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Michael Riedmüller

Im Osten viel Neues: Geschichten aus der Ukraine

3. 3. 2014 - 13:34

Kalter Krieg reloaded

Putin gibt vor, mit der Intervention auf der Krim einen faschistischen Putsch stoppen zu wollen. In Wirklichkeit aber ist es die Horrorvorstellung einer demokratischen Ukraine, die seine größte Angst ist.

Wer die „Debatte“ im russischen Föderationsrat über den Einsatz des Militärs auf ukrainischem Boden live auf Russia Today verfolgte, ohne viel über die tatsächliche Situation Bescheid zu wissen, der konnte schnell in Panik ausbrechen: die Maidan-Revolution, nichts anderes als ein vom Western unterstützter Putsch einer Horde antisemitischer Faschisten, die den Aufstand bis nach Moskau tragen wollen. Diese Beschreibung der ukrainischen Demonstranten beherrschte die Schlagzeilen in den vom Kreml kontrollierten Medien schon von Anfang an, nun diente sie endgültig als Begründung für eine mögliche Militärintervention. Putinsche Propaganda im Stile des Kalten Kriegs, kennt man ja schon.

Maidan-Demonstrationen

EPA

Gestern am Maidan: UjrainerInnen mit Bildern von Demonstranten, die während der Proteste getötet wurden

Was bisher geschah

Erstaunlich aber ist, auf wie viel Anklang diese verschrobene Sicht der Dinge auch hierzulande trifft: Ein demokratisch gewählter Präsident wird im Zuge eines nationalistisch gesinnten Putsches von einer kleinen Volksbewegung gestürzt. So oder so ähnlich kann die Stimmung zusammengefasst werden, die nach dem Umsturz in der Ukraine in vielen Foren österreichischer Medien herrschte. Vermischt wurde diese Wahrnehmung mit allerlei Verschwörungstheorien: Hinter den Demonstrationen stünden die EU und die USA, die die Ukraine aus den Fängen Russlands bringen möchte und in ihre Einflusssphäre zwingen möchte. Wer eine andere Meinung vertritt, der ist Teil des Systems und seiner Medienpropaganda. Hört sich alles sehr gut an, doch streift die Realität nicht einmal ansatzweise.

Viktor Janukowitsch wurde 2010 in freien Präsidentschaftswahlen demokratisch legitimiert. Doch in einem Tempo, das selbst die größten Pessimisten überraschte, verspielte er diese Legitimation innerhalb kürzester Zeit. Verfassungsrichter wurden erpresst oder gleich abgesetzt. Als Vorsitzender des Obersten Gerichtshofs wurde ein Richter ernannt, der zuvor in Donetsk dafür gesorgt hatte, dass Janukowitschs Strafakte aus dem Register gestrichen wurde. Aus einem verurteilten Schläger wurde so ein unbescholtener Bürger. In einem rechtlich mehr als fragwürdigen Verfahren wurde kurz darauf die Verfassung von 2004 geändert, um dem Präsidenten nahezu uneingeschränkte Macht zu verleihen. Unliebsame Oppositionspolitiker wurden in politisch beeinflussten Verfahren zu langen Haftstrafen verurteilt. Julia Timoschenko mag nicht unschuldig sein – so gut wie niemand, der in den Neunzigern in Ex-Sowjetrepubliken zu großem Reichtum gelangte, schaffte das mit legalen Mitteln. Doch ihre Verurteilung beruhte auf fadenscheinigen Argumenten und war nichts anderes als selektive Justiz, die auf persönlichen Rachegelüsten fußte. Endgültig verlor das Regime unter Janukowitsch seine politische Legitimation 2012, als die Parlamentswahlen massiv zugunsten seiner Partei der Regionen gefälscht wurden.

Danach gingen er und sein Clan, die „Familie“, wie er in ukrainischen Medien genannt wird, dazu über, die Wörter Korruption und Vetternwirtschaft neu zu definieren. Günstlinge wurden innerhalb kürzester Zeit zu Milliardären, während tausende kleine Unternehmer so sehr von den Steuerbehörden terrorisiert wurden, dass sie ihre Geschäfte dichtmachen mussten. Das Staatsbudget diente der „Familie“ als Selbstbedienungsladen. Was seit 2010 in der Ukraine geschah, war nichts anderes als staatlich organisierter Diebstahl in einem Ausmaß, das jede Vorstellung übersteigt. Bis zu siebzig Milliarden Euro sollen laut neuesten Schätzungen in den Kanälen des Clans verschwunden sein. Geld, das in das Staatsbudget ein solches Loch riss, dass die Ukraine vor einem halben Jahr kurz vor dem Bankrott stand. Im November, das Land war de facto bereits zahlungsunfähig, hatte Janukowitsch zwei Möglichkeiten: Das Abkommen mit der EU, das langfristig von Vorteil wäre, aber auch die Einführung von Rechtsstaatlichkeit vorsah, oder Geld von einem anderen autoritären Regime. Er entschied sich für letzteres, nicht weil er pro-russisch wäre, wie er immer wieder bezeichnet wird: Janukowitsch ist ausschließlich pro-Janukowitsch. Der Deal mit Russland war für ihn die einzige Möglichkeit, an der Macht zu bleiben. Vladimir Putin hingegen sah die Chance, seinen Traum der Eurasischen Union, die ohne die Ukraine nichts wert wäre, doch noch zu erreichen, und das für den Preis von „nur“ 15 Milliarden Euro. Doch womit beide nicht gerechnet hatten, war die Reaktion der Bevölkerung.

"Ukrayinska pravda" journalist, Serhiy Leshchenko, journalist Mustafa Nayem and Taras Chornovil, People's Deputy

Public Domain

Mustafa Nayem (Mitte)

Am Anfang der Revolution stand nicht die EU oder die USA, sondern ein couragierter Journalist. Mustafa Nayem, Ukrainer mit afghanischen Wurzeln, der seit Jahren Korruptionsskandale aufgedeckt hatte, schrieb auf seiner Facebookseite einen Aufruf zu einer Demonstration am Maidan. Was dann passierte, überraschte ihn selbst. Innerhalb kürzester Zeit kamen tausende junge Menschen auf den zentralen Platz in Kiew, um für eine Annäherung an die EU zu demonstrieren. Sie waren frustriert, wütend, konnten nicht glauben, dass Janukowitsch das EU-Abkommen nicht unterzeichnen würde. Innerhalb weniger Tage entwickelten sich die Demonstrationen zur Volksbewegung, die das Regime schlussendlich stürzte. Es war ein Regime, das schon lange jegliche Legitimation verloren hatte und das mit brutaler Gewalt antwortete. Am Ende ging es nicht mehr um eine europäische Ausrichtung, sondern um den Sturz eines autokratischen Regimes. Gestürzt wurde es nicht vom Westen, sondern von Bürgern, die endlich ein Leben in Würde führen wollen, und zwar über alle Bevölkerungsschichten hinweg.

In den Berichten über die Revolution aber wurde immer stärker die Rolle von Ultra-Nationalisten hervorgehoben. Die weit rechts stehende Partei Sowoboda beispielsweise hat tatsächlich eine wichtige Rolle in den Protesten gespielt. Mitglieder der radikalen Gruppierung „Pravij Sektor“ waren während den gewalttätigen Auseinandersetzungen an vorderster Front. Doch die Wahrnehmung, dass ein Großteil der Demonstranten Ultra-Nationalisten seien, geht völlig an der Realität vorbei. Am Maidan war ein ziemlich genaues Abbild des Spektrums der ukrainischen Bevölkerung vertreten. Dazu gehören auch nationalistische Gruppierungen, wenngleich sie nur eine kleine Minderheit stellen. Es ist ein Spin, der in der Propaganda-Abteilung des Kremls von Anfang an gesponnen wurde. Aus einer Volksbewegung wurde in den russischen Medien, die von Putin kontrolliert werden, ein Aufstand von nationalistischen Faschisten. Auch der geflohene Janukowitsch sprach in seiner abstrusen Pressekonferenz im russischen Rostow von einem Nazi-Coup. Es ist genau das Wording, das nun als Folie für die russische Militärintervention auf der Krim dient. Ethnische Russen und russische Staatsbürger seien in Gefahr und müssten geschützt werden.

Vor wem? Berichte in russischen Medien, die von rechtsextremen Gruppen aus dem Westen der Ukraine sprechen, die auf die Krim fahren, um Jagd auf Russen zu machen, entsprechen nicht der Wahrheit, oder besser: sind frei erfunden. Jene Politiker auf der Krim, die nun Russland zur Hilfe rufen – wie der neue Ministerpräsident, der vor wenigen Tagen in einer nichtöffentlichen Sitzung im Parlament der Autonomen Republik gewählt wurde – werden seit Jahren vom Kreml finanziell unterstützt. Die ukrainische Übergangsregierung ist alles andere als eine Versammlung nationalistischer Westukrainer. Der Innenminister Arsen Avakov ist gebürtiger Armenier mit russischen Wurzeln, der Übergangspräsident Oleksandr Turtschynov ist ein Baptistenpriester aus dem ostukrainischen Dnipropetrovsk. Keine einzige Handlung der neuen Regierung ließe darauf schließen, dass die russische Minderheit in der Ukraine Angst vor Verfolgung haben müsste. Auch die Abschaffung des Gesetzes, das Russisch in bestimmten Regionen zur Amtssprache machte, mag symbolisch kontraproduktiv gewesen sein, aber eine Bedrohung für die russischsprachige Bevölkerung stellt es keineswegs dar. Das Gesetz war erst 2012 verabschiedet worden. Die Intention dahinter war, eine weitere Polarisierung in der Ukraine zu erzeugen und mit den Ängsten russischsprachiger Menschen zu spielen. Grundsätzlich spielt die Sprachenfrage ohnehin nur eine untergeordnete Rolle. Die meisten Ukrainer sind zweisprachig, nur fünf Prozent der Bevölkerung sehen das Sprachenthema als wichtig an. Auf der Krim ist das tatsächlich anders. Sechzig Prozent der dortigen Bevölkerung sind ethnische Russen, nur ein Viertel Ukrainer, der Rest sind Krim-Tataren. Seperationsbewegungen sind dort nichts Neues. Doch bedroht fühlten sich die Russen auf der Krim von der Zentralgewalt in Kiew nie.

Flugblätter gegen PUtin

dpa-Zentralbild

Demonstranten halten am 02.03.2014 vor der russischen Botschaft in Berlin Plakate mit den Porträts von Stalin und Putin und der Aufschrift "Putin Hands off Ukraine".

In Wirklichkeit sind die Vorgänge auf der Krim die Wiederholung des Szenarios in Georgien vor sechs Jahren, als Russland Süd-Ossetien „befreite“. In der Ukraine aber würde eine mögliche Militärintervention unter anderen Vorzeichen stehen. Natürlich haben die Vorgänge auch hier viele machtpolitische Komponenten, aber für Putin ist es vor allem auch eine ideologische Frage. Für ihn gehören große Teile der Ukraine zu seiner Vorstellung eines großrussischen Reiches. Insofern ist es auch nicht undenkbar, dass Russland nicht nur die Krim, sondern auch den Osten der Ukraine okkupiert. Am Schlimmsten aber wiegt, dass eine demokratische Ukraine eine Horrorvorstellung für Putin ist. Sie könnte der erste Dominostein sein, der auch andere korrupte, autokratische Regimes zum Fallen bringt, und am Ende könnte Russland stehen. Daher wird Russland wohl mit allen Mitteln versuchen, das Land zu destabilisieren. Putin mag dafür viele Gründe haben, aber der von ihm vorgeschobene – der Versuch, einen faschistischen Putsch zu stoppen – ist nichts anderes als Kalter-Krieg-Propaganda.