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Michael Riedmüller

Im Osten viel Neues: Geschichten aus der Ukraine

21. 1. 2014 - 17:23

Live or Die

Die bisher friedlichen Proteste in Kiew eskalieren, während die ukrainische Regierung die ehemalige Sowjetrepublik wieder in Richtung Diktatur führt.

Demonstrationen in der Ukraine

Aus der Revolution entspringt ein Sender:
Hromadske.tv arbeitet gegen den ukrainischen Oligarchen-Mainstream und profilierte sich schnell als Zentralorgan der Proteste gegen das Regime.

Eine schlaflose Revolution:
Die Proteste im Zentrum von Kiew gehen unvermindert weiter, auch wenn die Ungewissheit, wie der Aufstand gegen die Regierung ausgehen wird, viele Ukrainer zermürbt.

"Whatever will happen tomorrow, this day will change Ukraine", schrieb die junge Ukrainern Katarina Kruk am Samstag auf Twitter, einen Tag bevor die Proteste in Kiew eskalierten. Sie sollte recht behalten. Am Sonntag gingen erneut hunderttausende Menschen auf die Straße, wie schon viele Wochen zuvor. Doch dieses Mal lag eine angespannte Stimmung in der Luft: Frustration nach monatelangen, erfolglosen Dauerdemonstrationen und Wut, nachdem die Regierung wenige Tage zuvor im Eilverfahren Gesetze durchs Parlament gepeitscht hat, die die Rechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit massiv einschränken und die den Weg der Ukraine zur Diktatur ebnen.

"Seit Beginn der Proteste habe ich an allen Demos teilgenommen, ich habe auf Englisch getwittert und die Vorgänge in Kiew kommentiert. Dem neuen Gesetz nach kann ich für diese Aktionen zu zwei Jahren Haft verurteilt werden. Ich kann nicht verstehen, warum ich, eine 22-jährige Ukrainerin, eine Verbrecherin in meinem eigenen Land werden kann, nur weil ich Informationen teile und die Wahrheit sage", schreibt Kruk in einem Kommentar für den Guardian.

Vitali Klitschko

APA/EPA/SERGEY DOLZHENKO

Vitali Klitschko

Frustration, Wut und die Angst, zusehen zu müssen, wie sich ihr Land in eine Diktatur verwandelt, waren allesamt Gründe für die Gewalt, die von den Demonstranten ausging. Ein Auslöser allerdings war auch die Tatsache, dass die Opposition nach vielen Wochen noch immer keinen klaren Anführer hat. Als am Sonntag ein Aktivist auf der Bühne am Maidan den Appell an die Bewegung verlas, einen Anführer zu wählen, wurde er als Provokateur beschimpft, auch von Vitali Klitchko, der trotz seiner Rolle als Chef der zweitgrößten Oppositionspartei von vielen Ukrainern nicht als Führungsfigur angesehen wird. Ab diesem Moment verloren die Oppositionspolitiker die Kontrolle über die Massen.

Auch wenn ein Großteil der Ukrainer Gewalt als Mittel des Widerstands von Beginn an ablehnten, lautet der Grundtenor nun vielmehr: Was hier passiert, ist nicht gut, aber notwendig. "Ich unterstützte Gewalt nicht und es tut weh, mein Land brennen zu sehen. Aber ich kann verstehen, warum die Menschen sich so verhalten. Es ist traurig und falsch, dass sie ihre Gefühle auf diese Art und Weise ausgedrückt haben, aber wenn es keinen Anführer gibt, der die Menschen kontrolliert, beginnen die Menschen, so zu agieren wie es die Straße sie lehrt", sagt Kruk und spricht damit aus, was viele der Demonstranten denken.


„We don´t want this shit, we want to be equal!“. Ein Mann erklärt während den Ausschreitungen, warum die Ukraine eine Revolution braucht.

Trotz der Eskalation der Proteste bleiben die Demos aber erstaunlich "zivilisiert" und zielgerichtet - von anarchischen Zuständen, wie die Bilder der brennenden Polizeibusse sie suggerieren, kann keine Rede sein. Schaufenster werden nicht eingeschlagen, die Gewalt richtet sich allein gegen die Spezialeinheiten der Polizei, die das Parlament weiträumig abschirmen und jeden Zugang zum Regierungsviertel versperren. Auch kam es bisher nur selten zu direkten Konfrontationen zwischen Demonstranten und Polizisten, von der einen Seite werden Molotov-Cocktails und Steine geworfen, von der anderen Tränengasgranaten und Gummigeschosse. Die landen aber allesamt zumeist in einer Zone zwischen den weit auseinanderstehen Fronten. Brian Bronner, Chefredakteur der englischsprachigen Kyiv Post schrieb dazu, dass es oft den Anschein hätte, als würde man einen Kampf auf einem Schulhof verfolgen.

Unruhen in der Ukraine

APA/EPA/SERGEY DOLZHENKO

Die Lage kann sich aber von Stunde zu Stunde verändern, vor allem, weil die Regierung nun offenbar immer mehr auf Eskalation als auf Dialog setzt. Laut der regimekritischen Internetzeitung "Ukrainiska Pravda" hat das Innenministerium eine Order ausgegeben, die den Gebrauch von physischer Gewalt bis hin zum Einsatz von Schusswaffen erlaubt, um gegen die Protestanten vorzugehen. Vergangene Nacht wurden in ganz Kiew zudem große Gruppen von sogenannten "Titushki" gesehen und zum Teil festgenommen. Titushki ist ein in der Ukraine weit verbreiteter Begriff für Straßenhooligans, die im Verdacht stehen, von der Regierung bezahlt zu werden um Demonstranten und Journalisten zu attackieren. Einige der festgenommen Schläger haben laut der Pressestelle der Maidan-Aktivisten zugegeben, dass sie engagiert wurden, um Autos und Fenster einzuschlagen. Der Lohn dafür: 30 Euro.

Auch die Repressionen gegen die Demonstranten nehmen in den vergangen Tagen neue Ausmaße an. So wurde Igor Lutsenko, einer der führenden Köpfe der Maidan-Aktivisten, vergangene Nacht aus einem Krankenhaus gekidnappt. Derzeit fehlt jede Spur von ihm. Schon vor zwei Tagen wurden sechs Studenten der Filmakademie im Zentrum von Kiew festgenommen. Ihnen wird vorgeworfen, Ausschreitungen organisiert zu haben. Laut Bekannten von ihnen ein absurder Vorwurf, sie hätten lediglich an den Demos teilgenommen.

Wie kann es weitergehen? Derzeit sieht es nicht danach aus, als ob die Regierung an einer politischen Lösung interessiert wäre. Ganz im Gegenteil: Mit den neuen Gesetzen hat das Regime gezeigt, dass es eine Annäherung an Russland nicht nur wirtschaftlich anstrebt, sondern dem Nachbar auch in Sachen Verletzung der Menschenrechte nacheifert. Die Demonstranten hingegen haben nach zwei Monaten friedlicher Proteste die Geduld verloren. Es liegt eine "Live or Die"-Stimmung in der Luft, und zwar bei beiden Seiten. Die Demonstranten kämpfen um ihre Freiheit, das Regime ums Überleben. "Mit diesen Leuten an der Macht", sagt Kruk, "kann hier niemand sicher sein, dass wir nicht wieder in einer Diktatur enden. Nach dem, was hier in den vergangenen Monat passiert ist, werden wir uns nicht beruhigen, bis der Präsident und die Regierung zurücktritt."