Erstellt am: 16. 12. 2013 - 14:34 Uhr
Eine schlaflose Revolution
Politik und Gesellschaft auf FM4
Es ist drei Uhr früh am Kiewer Maidan, dem Zentrum der ukrainischen Protestbewegung, die nun schon in ihre vierte Woche geht. Der große Bildschirm auf dem Haus neben der Bühne zeigt minus fünf Grad an, doch den Menschen hier scheint die klirrende Kälte nichts auszumachen. Sie tanzen und singen, Folklore, Popsongs und die ukrainische Hymne, die jede Stunde angestimmt wird.
Michael Riedmüller
Von der Bühne aus stachelt Ruslana Lyschytschko die Menge an. 2004 gewann sie den Eurovision Song Contest. Im selben Jahr war sie einer der Symbolfiguren der Orangen Revolution, seitdem ist Ruslana eine Volksheldin in der Ukraine. Diese neue Revolution, wie sie am Maidan ganz selbstverständlich genannt wird, ist auch eine große Party und, so wirkt es, Ruslanas ganz persönliche Mission. Seit drei Wochen steht sie unentwegt auf der Bühne, Tag und Nacht, motiviert die Menschen, weiterzumachen, sie springt herum, tanzt, schunkelt, immer mit einem Lächeln im Gesicht. Dass sie seit Wochen hier ist, ist ihr nicht anzumerken.
Michael Riedmüller
Die Stimmung in dieser Nacht ist ausgelassen. Am Abend zuvor fand das wohl größte Freiluftkonzert in der Geschichte des Landes statt. Über hunderttausend Menschen pilgerten auf den Maidan, um Okean Elzy zu sehen, seit bald zwanzig Jahren die beliebteste Rockband in der Ukraine. Gewidmet war das Konzert den Opfern der Polizeigewalt, und gleich der erste Song war ein Statement - "Vstavai, moya myla!" (2Rise, my dear") war einer der Hymnen der Orangen Revolution und wird auch am "Euromaidan" oft gespielt.
Doch so fröhlich die Stimmung auch ist: Eine seltsame Atmosphäre liegt über dem Platz. Ständige Anspannung, ob die Polizei wieder versuchen wird, den Platz zu räumen. Verwirrung, wie es hier weitergehen soll, wie es ausgehen kann. Ein Kompromiss zwischen Präsident Viktor Janukowitsch und Opposition scheint kaum mehr möglich, mit weniger als einem Rücktritt der Regierung und sofortigen Neuwahlen gibt sich hier niemand mehr zufrieden. Ein Szenario, das aus heutiger Sicht mehr als unwahrscheinlich wirkt.
Die Regierung spielt unterdessen auf Zeit, auch wenn der Glaube, die Proteste aussitzen zu können, angesichts deren Ausmaß von einem gewissen Realitätsverlust zeugt. Doch die Ungewissheit, wie diese Revolte ohne klares Ziel, ohne wirkliche Anführer ausgehen kann, hat eine zermürbende Wirkung auf die Menschen in Kiew, die nun schon seit Wochen auf die Straße gehen.
Michael Riedmüller
"Ich bin müde", sagt die Schriftstellerin Kseniya Kharchenko, die seit Beginn der Proteste immer und immer wieder gegen die Regierung demonstriert. "Ich komme kaum mehr zum Schlafen", sagt sie mit einem gequälten Lächeln auf den Lippen, nachdem sie gerade Stunden auf dem Maidan verbracht hat. "Jede Nacht verfolge ich die neuesten Nachrichten und fürchte, dass die Polizei wieder einschreitet." Für die 29-Jährige ist der Euromaidan eine "Revolution der Schlaflosigkeit", wie sie es ausdrückt.
Und dennoch: Die Proteste gehen unvermindert weiter. Einen Tag nach dem Konzert fand eine weitere Großkundgebung mit mehren hunderttausend Teilnehmern statt, wie jeden Sonntag seit dem 30. November, als die Spezialeinheit Berkut frühmorgens einige hundert Studenten am Maidan brutal niederprügelte.
Michael Riedmüller
Als Überraschungsgast stand der ehemalige US-amerikanische Präsidentschaftskandidat John McCain auf der Bühne, um den Demonstranten die Unterstützung der USA zuzusichern. Inhaltlich hatte seine Rede wenig zu bieten, dafür war sie mit umso mehr Pathos gespickt: "Ihr seid eine Inspiration für die Ukraine und die ganze Welt" oder "Europa wird ein besserer Ort mit der Ukraine, und die Ukraine ein besserer Ort mit Europa". Das mag reichlich seltsam wirken, aber die Menschen jubelten. Denn wo sonst wäre Pathos besser angebracht als bei einer waschechten Revolution? Den Menschen auf dem Maidan geht es um die Symbolik des Auftritts: "Dass McCain hier war, ist extrem wichtig", sagt Andrii, einer der vielen Freiwilligen, während er Tee verteilt. "Wir brauchen die Unterstützung, nicht nur von unseren Nachbarn, sondern von der ganzen Welt. Dann werden wir auch gewinnen."
Michael Riedmüller
Gleichzeitig fand ein paar hundert Meter weiter, vor dem Parlament, wie schon am Tag zuvor eine Gegendemo statt, ironischerweise am "Europäischen Platz". Einige zehntausend Menschen schwenkten Fahnen der regierenden Partei der Regionen und lauschten anti-europäischen Ausfällen wie jener Aussage von Premierminister Mykola Azarov, dass die Ukraine die Homo-Ehe einführen müsste, wenn sie der EU beitreten will. Bei der nicht nur latenten, sondern offen zur Schau gestellten Homophobie in der Ukraine ein plumper, aber in weiten Teilen der Bevölkerung wirksamer Versuch, die EU zu diskreditieren. Die Demonstranten selbst kamen zum großen Teil in Bussen aus dem Osten der Ukraine. In lokalen Medien verbreiteten sich schnell Gerüchte, dass viele von ihnen dafür bezahlt oder Staatsbedienstete dazu "angehalten" wurden. Demonstrieren für ein paar hundert Hrywnja (ein Euro entspricht ungefähr 11 Hrywnja), eine gängige Praxis in der ehemaligen Sowjetrepublik.
Michael Riedmüller
Obwohl die gegnerischen Lager so nah beieinander waren und Zusammenstöße befürchtet wurden, blieb es ruhig in Kiew. Überraschenderweise hält sich auch die Polizei seit einer Woche völlig zurück, bei den Großdemos waren nur einige wenige Verkehrspolizisten zu sehen. Die Regierung dürfte aus den letzten Wochen gelernt haben. Nach jedem Polizeieinsatz kamen mehr Menschen auf den Maidan, die Barrikaden wurden massiv verstärkt, heute sind sie viermal so hoch wie am Anfang. Massive Holzplanken, Stacheldraht, Autoreifen - der Platz sieht mittlerweile aus wie ein Fort, das nur mit massiver Gewaltanwendung gestürmt werden kann.
Michael Riedmüller
"Wir gehen nicht mehr weg von hier, wir bleiben bis zum Ende", sagt ein junger Mann, der sich als Vitali vorstellt, während wir uns bei einer Metalltonne wärmen, aus der Flammen und noch mehr Rauch quellen. Es klingt wie eine Plattitüde, aber es kommt aus voller Überzeugung aus seinem Mund. Wie das Ende aussehen soll und wann es kommen wird, das kann er aber genauso wenig sagen wie alle anderen hier.