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Michael Riedmüller

Im Osten viel Neues: Geschichten aus der Ukraine

28. 12. 2013 - 11:43

Aus der Revolution entspringt ein Sender

Hromadske.tv arbeitet gegen den ukrainischen Oligarchen-Mainstream, der die Medienlandschaft bisher fest im Griff hatte, und profilierte sich schnell als Zentralorgan der Proteste gegen das Regime.

Wer ins mediale Herz der ukrainischen Protestbewegung vordringen möchte, der muss einen unscheinbaren Bürokomplex etwas außerhalb des Kiewer Zentrums besuchen. "Vektor" prangt in großen Lettern auf dem Dach des modernen, ästhetisch fragwürdigen Zweckbaus, hier hat sich Hromadske.tv ("Öffentliches TV") eingemietet. Der Online-Sender ist zum Zentralorgan des Aufstands gegen das Regime von Präsident Viktor Janukowitsch geworden, seitdem er vor einem Monat das erste Mal auf Sendung gegangen ist. Das Studio befindet sich im Dachgeschoß, ein paar Schreibtische mit Bildschirmen, steriles Licht aus Neonröhren, geschäftiges Treiben. Am Gang läuft mir Mustafa Nayem über den Weg. Kurze Begrüßung und die Frage, die er in diesen Tagen oft gehört hat - "Mustafa, wie oft hast du in den letzten Wochen geschlafen?" "Dreimal, da war ich krank und konnte nicht mehr."

Redaktionsteam von hromadske.tv

Hromadske.tv

Eine Minute später rauscht er wieder weiter, "ab Mitternacht bin ich am Maidan, lass uns dort noch einmal sprechen", ruft er noch schnell, bevor er wieder im Studio sitzt. Nayem, der Mann, der niemals schläft. Seit Beginn der Proteste ist er unermüdlich im Einsatz. Er war dabei, als Spezialeinheiten Studenten niederprügelten und als die Demonstrationen vor dem Präsidentenpalast eskalierten. Wenn er nicht als Außenreporter im Einsatz ist, dann sitzt er im Studio und leitet Diskussionsrunden. Nebenbei bloggt er und schreibt Artikel für die Online-Zeitung "Ukrainska Pravda".

Der 32-Jährige ist einer der Mitgründer von Hromadske.tv. Vergangenen Sommer versammelte sich eine Gruppe von Journalisten, die allesamt für die großen TV-Sender des Landes gearbeitet hatten, aber die herrschende Zensur durch die Regierung und die Besitzer, die mächtigen Oligarchen, nicht mehr mittragen wollten. So entstand die Idee eines eigenen Online-Senders. Geld hatten sie keines, dafür viel Know-How. Von der amerikanischen Botschaft wurde das Equipment bezahlt, als Kameras dienen ein paar iPhones, von denen aus die Live-Bilder mittels einer eigenen App direkt ins Studio gesendet werden. Aus den Niederlanden kam eine Anschubfinanzierung von 100.000 Euro, der Renaissance-Fund von George Soros finanzierte einen Businessplan. "Unser Vorbild waren öffentlich-rechtliche Sender wie die BBC, wir wollten nicht mehr länger warten, bis der Staat sich darum kümmert", sagt die Journalistin Nataliya Gumenyuk, die von Anfang an dabei war.

Redaktionsteam hromadske.tv

Hromadske.tv

Das erste Mal On-Air ging Hromadske.tv am 22. November, einen Tag nach Beginn der Demonstrationen. Es war ein fliegender Start, das Ausmaß der Proteste überraschte auch die Journalisten von Hromadske.tv. Eigentlich waren für den Beginn nur ein paar Sendungen pro Woche geplant, doch die Realität warf alle Pläne über den Haufen. Statt einigen wenigen Beiträgen zeigte der Sender rund um die Uhr Live-Bilder von den Demonstrationen und von den Zusammenstößen mit der Polizei sowie Diskussionen im Studio. Schnell wurde Hromadske.tv für viele Ukrainer zur wichtigsten Informationsquelle. Seit Beginn haben 8 Millionen Unique Clients auf die Homepage zugegriffen, am Rekordtag zählte das System zwei Millionen Clicks.

Der Erfolg von Hromadske.tv zeigt sich auch am Crowdfunding. Im ersten Monat hat der Sender 100.000 Euro an Spenden von Zuschauern bekommen. "Niemand von uns hat damit gerechnet, dass wir so schnell wachsen", sagt Gumenyuk. Die großen Fernsehsender hätten in den vergangenen Jahren immer mehr an Vertrauen eingebüßt, Hromadske.tv hingegen hat sich schnell einen Namen gemacht, was objektive Berichterstattung anbelangt. Gerüchte, Spekulationen und absichtliche Fehlinformationen machen in Kiew in diesen Tagen ständig die Runde, oft ist es der neue Online-Sender, der nicht nur live von den Protesten überträgt, sondern auch als erster Hintergründe erklärt. Als beispielsweise das Gerücht umging, dass Panzer auf dem Weg nach Kiew seien, war es Hromadske.tv, der die plötzliche Panik stoppte. Reporter des Senders fanden schnell heraus, dass die Berichte falsch waren.

In der Redaktion von hromadske.tv

Hromadske.tv

Läuft man dieser Tage mit Journalisten von Hromadske.tv durch die Stadt, wird man oft von Fremden angesprochen. "Du bist doch von diesem neuen Online-Sender", hört man dann oder auch nur ein einfaches "Gut, dass es euch gibt!" "Für viele sind wir die erste verlässliche Quelle. Ukrainische Moderatoren sind oft nichts anderes als gut angezogene Puppen, uns interessieren aber nur die Fakten", sagt Gumenyuk. Die Live-Sendungen sind oft improvisiert, das Studio ist ein gut ausgeleuchteter Tisch in einer Ecke der Redaktion, aber am Ende arbeitet das Team trotz der wenigen Mittel hochprofessionell. Mittlerweile auch mit der Hilfe von bis zu 150 Freiwilligen, von denen vieles abhängt, erzählt Ludmila Jankina, die selbst erst vor Kurzem zu Hromadske.tv gestoßen ist. Im Brotberuf arbeitet sie als Beraterin einer Kiewer Firma. Ihr Chef hat ihr freigegeben, derzeit arbeitet sie unentgeltlich 16 Stunden am Tag, um die Freiwilligen zu koordinieren. "Viele Leute wollen so wie ich aus einem Gefühl der Verantwortung heraus helfen", sagt sie. Die meisten von ihnen seien keine Studenten, sondern Unternehmer oder Manager. "Es geht hier um unsere Würde. Wir wollen, dass unsere Kinder und Enkel eine gute Zukunft haben."