Erstellt am: 19. 2. 2014 - 16:02 Uhr
Endzeitstimmung in Kiew
Als ich vor einigen Wochen von einer Reise aus Kiew zurückkam, fragte mich ein Freund, ob sich die Proteste in der Ukraine zu einem Bürgerkrieg entwickeln könnten. "Bürgerkrieg?" Allein das Wort schockierte mich. Ich hatte in Kiew alle möglichen Szenarien diskutiert, aber ein Bürgerkrieg schien mir damals nahezu unvorstellbar. "Natürlich, ausschließen kann man bei dieser Regierung nichts", antwortete ich. "Aber so weit wird es nicht kommen." Als ich gestern die Straßenschlachten in Kiew verfolgte, holte mich dieses Gespräch ein. War es nur Wunschdenken, dass mir der Gedanke eines Bürgerkriegs so absurd erschien? Die Ukrainer sind ein friedliebendes Volk. Der Übergang von der Sowjetunion zur Unabhängigkeit, die Orange Revolution, das Land hat in den letzten Jahrzehnten viele Krisen durchgestanden, nie wurde dabei Blut vergossen. Als am 30. November die Proteste am Maidan zum ersten Mal gewaltsam niedergeschlagen wurden, ging ein Aufschrei durch das Land. Erst dieser Ausbruch von Gewalt führte zu den Massenprotesten, die bis heute andauern. Lange Zeit waren sie friedlich, die meisten Ukrainer bestanden darauf, nicht mit Gewalt zu antworten.
EPA/ALEXEY FURMAN
"Es geht hier nicht um Europa oder Russland, wir kämpfen für unser Recht, in Würde zu leben." Diesen Satz hörte ich in Kiew dutzende Male. Dieser Kampf für ein würdevolles Leben, für Freiheit, für einen Rechtsstaat, gegen himmelschreiende Korruption, gegen Kleptokratie trieb über Monate hunderttausende Menschen auf die Straßen - und führte zu nichts. Im Gegenteil. Mitte Jänner erließ die ukrainische Regierung drakonische Gesetze, die die Versammlungs- und Meinungsfreiheit massiv einschränkten. Das war der Moment, an dem viele Ukrainer ihren Glauben an eine friedliche Revolution verloren. Wenige Tage später brannte Kiew zum ersten Mal, und zum ersten Mal in der jungen Geschichte der Ukraine starben Menschen bei Protesten gegen die Staatsmacht. Aus den friedlichen Demonstrationen wurde ein gewaltsamer Aufstand. Dabei waren es bei Weitem nicht nur radikale Gruppen, die Steine und Molotow-Cocktails warfen. Viele Freunde von mir, die immer friedliche Mittel predigten, die Gewalt niemals rechtfertigen wollten, sahen darin den letzten Ausweg. Es herrscht Endzeitstimmung in Kiew, nach dem Motto: Entweder wir schaffen es jetzt oder wir werden niemals frei sein. Und wenn wir es nicht mit friedlichen Mitteln schaffen, dann mit Gewalt. Auch wenn ich darin nicht mit ihnen übereinstimme: Mag man es ihnen verdenken?
EPA/SERGEY DOLZHENKO
Stellt euch vor, ihr wärt Ukrainer. Stellt euch vor, ihr würdet in einem Land leben, das so viel Schönes zu bieten hat, so eine reiche Kultur, die fruchtbarsten Böden Europas, so viele gut ausgebildete junge Menschen, so viel Potenzial für eine reiche Zukunft. Stellt euch vor, dass in diesem Land ein Großteil der Menschen unter massiver Armut leidet während ein paar wenige das Land ausbeuten. Stellt euch vor, dass eure Großeltern eine Pension von 80 Euro im Monat bekommen, während eine kleine Machtelite jedes Jahr zehn Milliarden Euro aus dem Staatsbudget stiehlt. Stellt euch vor, dass die Kinderkrebsklinik in der Hauptstadt geschlossen wird, während sich der Präsident Goldarmaturen in sein Badezimmer einbauen lässt. Stellt euch vor, dass Politikersöhne ein Mädchen vergewaltigen und töten und die Polizei keine Ermittlungen aufnimmt. Stellt euch vor, zu sehen, wie eure westlichen Nachbarländer prosperieren und ihr nicht einmal dorthin reisen könnt, weil ihr kein Schengenvisum bekommt. Stellt euch vor, dass eure Regierung über Jahre ein Abkommen mit der EU verhandelt, das eurem Land endlich eine gute Zukunftsperspektive bietet, nur um im letzten Moment umzuschwenken und sich von Russland kaufen zu lassen. Was für uns wie ein schlechter Film klingt, ist für die Ukrainer bittere Realität. Was gestern in Kiew passiert ist, muss man vor diesem Hintergrund betrachten.
Ursprünglich hat die Demonstration gestern unter dem Motto "Friedlicher Marsch" zum Parlament begonnen. Dort hätte eine Abstimmung über eine Verfassungsreform stattfinden sollen. Dabei wäre es gar keine Reform, sondern nur eine Rückkehr zur Verfassung von 2004. Denn Präsident Janukowitsch boxte nach seinem Amtsantritt eine neue Verfassung durch, die ihm nahezu uneingeschränkte Macht zusicherte. Diese abzuschaffen ist eine der zentralen Forderungen der Opposition. Kurz sah es so aus, als würden auch Abgeordnete der Präsidentenpartei für die Reform stimmen, bis der Parlamentspräsident kurzerhand erklärte, dass die Sitzung nicht stattfinden würde. Als die Nachricht die Demonstranten erreichte, brachen die Ausschreitungen los. Im Nachhinein wirkt das Ganze wie eine geplante Provokation, denn der Gewaltausbruch bot der Exekutive die Legitimation, gegen die Protestierenden vorzugehen. Und sie taten es mit einer nie gesehenen Brutalität. Sie schossen in die Menge und die Demonstranten schossen zurück.
EPA/SERGEY DOLZHENKO
Bürgerkrieg. Immer wieder kommt mir dieses Wort in den Sinn. Oleksandr Stukalo, ein junger Ukrainer, schreibt auf seiner Facebook-Seite: "Dear Europe! Now we are at war. Don't be afraid to call it war. It is not a conflict between east and west, russians and ukrainians, for or against EU. It is a war for our rights to be treated as human beings and not slaves. So do you remember what 'slaves' means? We do."
Ich wollte diese Geschichte mit einem Ausblick beenden, wie es nun in der Ukraine weitergehen wird. Seit gestern denke ich darüber nach, aber um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. Beim Beginn der Proteste war ich optimistisch, so wie ich immer optimistisch war, wenn es um die Zukunft der Ukraine ging. Doch heute frage ich mich, mit welchen Opfern diese Zukunft zustande kommen soll. Mit der Frage "Was soll nun passieren?" enden meine Nachrichten an ukrainische Freunde. Die Schriftstellerin Ksenia Kharchenko schreibt: "My life became hell, and it lasts till now and I don't know when it will end. It seems that everyone has fantasised at least once about what they would do, if they knew for certain, that they had only one day left to live. Some say they would spend it with their family; others, that they would stuff themselves with some fantastic drugs and fuck each other until they dropped dead. I used to imagine myself in the latter group - until yesterday. Because I was sitting, unable to speak, paralysed. I have never before felt such love, such fear, and such a lust for blood."