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Michael Riedmüller

Im Osten viel Neues: Geschichten aus der Ukraine

2. 12. 2013 - 17:00

"Fed up with these motherfuckers in power"

Die ukrainischen "Kinder der Unabhängigkeit" kämpfen gegen die Rechtlosigkeit und Kleptokratie in der ehemaligen Sowjetrepublik.

„Heute sind wir in einem anderen Land aufgewacht“, twitterte die ukrainische Journalistin Nataliya Gumenyuk am Samstagmorgen, einige Stunden, nachdem Spezialeinheiten die Demonstrationen am zentralen Kiewer Unabhängigkeitsplatz mit brutaler Gewalt aufgelöst hatten. Schnell verbreiteten sich in den sozialen Netzwerken Videos, die schockierende Szenen zeigten: Mitglieder der Spezialeinheit „Berkut“ schlagen wahllos auf wehrlose junge Menschen ein, Blut fließt, aus den Schreien der jungen Menschen sind nur Wortfetzen herauszuhören – „Warum“, „Was tut ihr hier?“

Noch nie in der jungen Geschichte der ehemaligen Sowjetrepublik hatte es einen solchen Ausbruch der Gewalt gegen Demonstranten gegeben – auch nicht 2004 während der Orangen Revolution, die einen friedlichen Machtwechsel erzwang. Zu diesem Zeitpunkt dauerten die Proteste bereits über eine Woche an. Auslöser war die Ankündigung der ukrainischen Regierung, das seit langem fertig ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU doch nicht zu unterzeichnen.

Nach einem Aufruf des bekannten Journalisten und Bloggers Mustafa Nayem versammelten sich noch am selben Abend spontan einige tausende Menschen, um gegen diese plötzliche Kehrtwende zu demonstrieren. Am nächsten Tag kam es in allen Städten des Landes zu Kundgebungen, in Kiew gingen schon bald 100.000 Menschen auf die Straße. Neun Jahre nach der Orangen Revolution, nach einem knappen Jahrzehnt, in denen das Land fast apathisch den Entwicklungen gegenüberstand, die die Hoffnungen des damaligen Aufstandes zunichte machte, rechnete kaum jemand mit einer solch überwältigenden Reaktion. Solch ein komplexes Thema wie ein Assoziierungsabkommen, das nicht einmal eine echte Beitrittsperspektive enthält, schien wenig geeignet, die Massen zu mobilisieren.

Proteste in der Ukraine

APA/EPA/FILIP SINGER

Den Menschen auf der Straße aber ging es viel mehr um die symbolische Perspektive als um die Details des Abkommens. Viele Ukrainer verbanden damit mehr als nur eine Freihandelszone. Sie hofften auf eine verstärkte europäische Integration, auf eine Lockerung des Visaregimes – am meisten aber verbanden sie mit einer Annäherung an Europa Grundwerte, die sie selbst nur im Westen zu Gesicht bekommen haben: Anti-Korruption, ein funktionierendes Sozialsystem, Medienfreiheit, gerechte Löhne und eine Regierung, die sich tatsächlich ums Gemeinwohl kümmert und deren Politik nicht ausschließlich zur eigenen Bereicherung dient.

Live-Berichterstattung des neuen Onlinesenders Hromadske.tv

Wenn die Ukrainer die Europa-Flagge schwingen, dann demonstrieren sie nicht für einen EU-Beitritt – es wäre naiv, zu glauben, dass sie auf eine baldige EU-Mitgliedschaft hoffen können, und dessen sind sich die Menschen auf den Straßen Kiews auch bewusst. Es geht in erster Linie auch nicht um diese Grundwerte, mit denen sie Europa verbinden. Die Losung „Ukraine nach Europa“ (abgerundet mit dem wenigen charmanten „Janukowitsch in den Arsch“) zu Anfang der Proteste ist ein Spiegelbild des unbändigen Wunsches nach Veränderung. Aleksandra Kovaleva, eine junge Ukrainerin aus Kiew, schrieb dazu in einem offenen Brief an die Bürger der EU:

No, my dears. […] For us, the agreement with the EU was a sign of change of the criminal system. For us this agreement was first of all control by EU politics of Ukrainian criminal power. That is the thing our “president” is so afraid of. And that's exactly what we want so badly.

Demonstranten klettern auf Statue

APA/EPA/ALEXEY FURMAN

Für viele Ukrainer bedeutet die Abkehr von der „Euro-Perspektive“, dass das Land in einem Status der Rechtlosigkeit und Kleptokratie verharrt. Dagegen richtet sich die Wut der Demonstranten. Sie sind wütend, weil sie erleben müssen, wie Politiker oder deren Söhne ungeschoren davonkommen, wenn sie betrunken Autounfälle verursachen. Weil sie selbst als Ärzte oder Lehrer 300 Euro im Monat bekommen während eine kleine Oligarchenelite im größten Luxus lebt und sich Politiker schamlos am Staat bereichern. Sie sind wütend, weil sie 2004 Hoffnung hatten, erfolgreich revoltierten und sich doch nichts änderte. Zuerst war nicht klar, ob die Demonstrationen nur eine kurzfristige Entladung des Frusts sein würden, aber spätestens seit der gewalttätigen Auflösung des Protestcamps hat die Protestwelle weite Teile der Bevölkerung erreicht.

Laut einer vor zwei Wochen veröffentlichten Umfrage des Instituts GfK Ukraine sind 45 Prozent der Ukrainer für das Assoziierungsabkommen, nur 14 für die Zollunion mit Russland. Unter den 16- bis 29-Jährigen allerdings war demnach eine große Mehrheit für eine Orientierung an Europa, bei den über 60-Jährigen ist genau das Gegenteil der Fall.

Getragen werden die Proteste von der Generation der 20-bis 40-Jährigen, die das immer noch herrschende, autoritäre Erbe der Sowjetunion endlich abschütteln wollen. Die jüngeren unter ihnen waren die Ersten, die in der unabhängigen Ukraine geboren wurden. In ihrem Selbstverständnis sehen sie sich als Europäer, nicht nur geographisch sondern auch in ihren Wertvorstellungen, doch ihre Lebenswirklichkeit wird diesem Selbstverständnis kaum gerecht. Das trifft im Übrigen auf eine große Mehrheit dieser Generation zu. Die vielzitierte Spaltung zwischen dem EU-orientierten Westen und dem Russland-orientierten Osten des Landes gilt für die Ukrainer unter 30 nur mehr sehr bedingt. Die Bruchlinien verlaufen vielmehr zwischen den Generationen als zwischen Ost und West.

junge Demonstrantinnen

APA/EPA/Wojciech Pacewicz

Solidaritätsdemo im polnischen Lublin.

Es ist kein Zufall, dass die Demos in die Zeit fallen, in der diese „Kinder der Unabhängigkeit“ erwachsen geworden sind. Sie sind das Rückgrat dieser Proteste, die von ihnen bereits Revolution genannt wird. Denn stand anfangs noch die Unterzeichnung des Abkommens im Zentrum, so ist es nun die Forderung nach dem Rücktritt der Regierung. Anders als 2004 aber geht es dieses Mal nicht „nur“ um einen Machtwechsel, nicht um die ehemalige Revolutionsheldin Julia Timoschenko und auch nicht um den vermeintlich neuen Helden Vitali Klitschko, sondern um eine tatsächliche Änderung des Systems – oder wie es die Journalistin Nataliya Melnychuk ausdrückt:

„It is not about the EU or whatever else's shoes foreign media are trying to put on this protest. This is about human rights, our dignity and being fed up with the rapacious motherfuckers in power.”