Erstellt am: 25. 2. 2014 - 14:56 Uhr
Stolz und Trauer
Seit Beginn der Proteste in Kiew kam Andrij Movchan, Bühnenmanager am Ivan Franko-Theater, jeden Tag für ein paar Stunden zum Maidan – immer darum bemüht, zu sehen, wie und wem er helfen kann. So auch am Morgen des 20. Februar. Um 10 Uhr war er beim Camp der "Democratic Alliance", danach ging er zu den Barrikaden, um den Demonstranten Wasser und Essen zu bringen, wie jeden Tag. Nach 11 Uhr reagierte er nicht mehr auf Anrufe. Eine Stunde später wurde er von besorgten Freunden gefunden, tot, mit mehreren Schusswunden, die ihm keine Überlebenschance ließen.
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Andrij Movchan wurde 34 Jahre alt. Seine Freunde beschreiben ihn als freundlichen, zurückhaltenden Menschen. Kein Extremist, einfach nur ein junger Mann, der helfen wollte, sein Land in eine bessere Zukunft zu führen. Heute steht sein Name auf der Liste jener, die während der Proteste ihr Leben verloren, zusammen mit über 80 anderen Namen. In den letzten Tagen sah ich immer wieder auf diese Liste, die mit jeder Stunde länger wurde. Nazar Voytovych, 17 Jahre alt. Bogdan Solchanyk, ein Geschichteprofessor aus Lemberg. Valeriy Brezdenyuk, ein Maler aus Vinnytsa. Am Maidan wird nicht gefeiert, sondern getrauert. Jeden Tag kommen tausende Menschen und legen Blumen auf den Platz neben den Bildern der Getöteten. In der Nacht verwandeln Kerzen den Maidan in ein riesiges Lichtermeer.
Viele Ukrainer sind stolz darauf, das verhasste autokratische Regime gestürzt zu haben. Doch in ihren Stolz mischt sich Wut und Selbstanklage. Die Journalistin Nataliya Gumenyuk schreibt:
I think that after everything that has happened, we do not have anything to be proud of. I am proud of the doctors, the lawyers, the commanders of the self-defense units, everyone who brought firewood or food, who ran the risks - not to mention the dead. Heroes do not perish. But we all did something wrong, if we failed to prevent so many deaths. We have to live with it and take some responsibility. Above all, the Maidan is a lesson to us.
Wien - Ushgorod näher als Wien - Bregenz
Was in der Ukraine geschehen ist, muss auch uns eine Lehre sein. Wir, und damit meine ich das abstrakte Bild von Europa, der "freien Welt", haben zu lange zugesehen, was in der Ukraine passiert, ohne uns auch nur einen Deut darum zu scheren. 2005, nach der Orangen Revolution, sprachen europäische Politiker davon, wie großartig es sei, dass die Ukrainer Demokratie erkämpft haben und nun auf ihrem weiteren Weg unterstützt werden müssen. Schönen Worten folgten wenige Taten. Keine EU-Beitrittsperspektive, keine Reisefreiheit. Stattdessen wurde die Ukraine geopolitisch weiterhin ausschließlich als Puffer zu Russland gesehen und wurde nur dann wichtig, wenn die Gaslieferungen ausblieben. Ungehindert konnten ukrainische Oligarchen und Politiker ihr Schwarzgeld bis heute in Österreich weißwaschen. Zehn Jahre nach der Orangen Revolution, drei Monate nach Beginn der neuen Proteste, sah sich der ORF in der sonntäglichen Diskussionssendung "Im Zentrum" genötigt, auf einer Landkarte zu zeigen, wie nah die Ukraine doch ist. 435 Kilometer Luftlinie von Wien zur Grenzstadt Ushgorod. 500 Kilometer sind es nach Bregenz. Ein paar hundert Kilometer, und für die meisten von uns doch eine andere Welt.
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Die Revolution in der Ukraine fand zum großen Teil ohne Hilfe von außen statt. Viele Ukrainer waren extrem enttäuscht, sie hatten sich mehr erhofft. Europa steht nun in der Verantwortung, zu helfen. Das Land steht vor dem wirtschaftlichen Kollaps und braucht dringende finanzielle Unterstützung, nicht nur die zugesagten IWF-Kredite, die mit Konditionen verbunden sind. Darüber hinaus sollten so schnell wie möglich Freihandelsabkommen vereinbart werden, visafreies Reisen, und ja, auch eine echte EU-Beitrittsperspektive. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder schreibt in einem emotionalen Kommentar für CNN:
The cause of the Ukrainian protesters was not to change the world, but only to change their world. What they wanted was normality, predictability, the ability to live their lives the way they chose. They wanted, in other words, the things that most of us take for granted. But now that their revolution has come, the world faces certain important choices. If we don't understand the revolution in Ukraine, then we miss something special and unusual: a chance to support democracy.
Die Ukraine ist europäisch
Viele mögen das als pathetisches Geschreibe abtun. Geschenkt. Die Realität ist um einiges schwieriger. 25 Milliarden Euro Finanzhilfe in Zeiten der Wirtschaftskrise sind keine Peanuts. Zudem steht die Ukraine politisch vor schwierigen Zeiten. Nicht alle Bürger unterstützten die Revolution, im Osten und Süden, dem Zentrum der Industrie, fürchten viele um ihre Jobs in den Fabriken und Minen – und das zu Recht. Wenn das Land endlich den notwendigen Modernisierungsweg einschlägt, wird es zuerst sie treffen. So notwendig diese Reformen auch sein werden, für viele Ukrainer werden sie schmerzhaft. Doch andere ehemalige Ostblock-Staaten wie Polen oder die baltischen Staaten haben gezeigt, dass es möglich ist, auch wenn die Ukraine allein durch seine Größe andere Voraussetzungen hat. Eines steht fest: Ohne Hilfe der EU wird es die Ukraine nicht schaffen. Die Menschen haben jedenfalls bewiesen, dass sie gewillt sind, diesen Weg zu gehen, und dass sie unsere Hilfe verdienen. Die Ukraine muss vom Westen endlich als das begriffen werden, was es ist: ein europäisches Land.