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Johanna Jaufer

Revival of the fittest... aber das war noch nicht alles.

3. 12. 2012 - 08:39

Hetzen gegen Hartz

Täglich wird in Wien so viel Brot weggeworfen, wie Graz verbraucht. Statt diesen Missstand zu beseitigen, putzen wir uns zu Unrecht an "Sozialschmarotzern" ab, findet die Autorin Kathrin Hartmann.

Montag ist Wirtschaftstag auf FM4, denn das Jahr neigt sich dem Ende zu und es wird Zeit für eine Bilanz. Wir sammeln Erklärungsmodelle und unverbrauchte Ideen von Menschen, Systemerhaltern und Kritikern. Vom Finanzmarktinsider bis zum Schuhfabrikanten kommen die verschiedensten Persönlichkeiten zu Wort. Alle Details dazu gibt es unter Monopoly Now!.

Die 1972 geborene Kathrin Hartmann hat sich als Journalistin (Frankfurter Rundschau, Neon etc.) einen Namen gemacht. Zuletzt veröffentlichte sie die Bücher "Ende der Märchenstunde. Wie die Industrie die Lohas und Lifestyle-Ökos vereinnahmt." und Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft. Kathrin Hartmann bloggt auf Ende der Märchenstunde.

Kathrin Hartmann

Kathrin Hartmann

Du meinst, dass die vorhandenen Strukturen von Wohltätigkeit auch Systemerhalter sind...

Ja. Die Tafeln ganz besonders. Ich halte das mehr für Charity: da profitieren zum Einen die Handelsketten, weil sie sich Entsorgungskosten sparen und weil sie ihr Image damit pflegen können; die Politik findet es super, weil sie das Ehrenamt und die Solidarität loben und sich schön aus der Affäre ziehen kann. Obwohl das natürlich mit Solidarität gar nichts zu tun hat, wenn man - polemisch ausgedrückt - Müll einsammelt, um ihn an die Armen zu geben.

Was außerdem absurd ist: dadurch, dass es diese Tafeln gibt - das sind ja im Grunde Suppenküchen wie im Krieg - wird ja ein Mangel suggeriert. Aber diesen Mangel gibt es nicht - vielmehr herrschen Überfluss und eine grotesk ungerechte Verteilung, die eben zu Armut führt. Das alles verschleiern die Tafeln eher, als dass sie wirklich an den Strukturen arbeiten können. Wenn sie wirklich die Armut bekämpfen würden, würden die Tafeln ja nicht immer mehr werden.

In deinem Buch stellst du fest, dass "nach unten getreten wird" - dass es nicht nur eine sichtbare Grenze ist, die sich durch die Gesellschaft zieht, sondern dass die auch bewusst abgesteckt wird.

Das ist eigentlich das Erschütternde an dieser neuen Art der Armut: dass Arme wahnsinnig diffamiert werden. Die stehen da als Sozialschmarotzer, die stehen grundsätzlich unter dem Generalverdacht, nicht arbeiten zu wollen, selber schuld zu sein, zu betrügen, sich auf Kosten der Gesellschaft ein gutes Leben zu machen. Ich habe so etwas bei den Recherchen (für ihr Buch "Wir müssen leider draußen bleiben", Anm.) nicht gefunden. Dieses Misstrauen und dieses wirkliche Diffamieren kommt nicht (mehr) aus der Richtung, von der man es gewohnt war, von rechts, von den Stammtischen oder vom Boulevard, sondern das wird von der Mittelschicht und von der Elite vorangetrieben.

Es gibt eine Untersuchung der Universität Bielefeld (näheres dazu hier), die zehn Jahre lang lief - die größte europäische Untersuchung über Diskriminierung - hier wurde festgestellt, dass Arme in den letzten Jahren ein stabiles Feindbild geworden sind. Das Erschütternde daran ist, dass unter den Armen viele sind, die ja etwas "leisten", weil sie arbeiten, aber zu wenig Geld verdienen, um davon leben zu können; es sind auch viele Rentner unter ihnen, die ein Leben lang gearbeitet haben und jetzt von der Rente nicht mehr leben können.

Es sind viele Kinder und Jugendliche dabei, die komplett chancenlos aufwachsen. Das ist ein ganz perfider Selbstschutz, der aber auch nur dazu führt, dass politische Entscheidungen getroffen werden, die der Allgemeinheit und auch der beleidigten besitzstandswahrenden Mittelschicht schadet.

"Unterschichtenhass", wie Du es nennst - entbindet der auch davor, selbst in die Verantwortung zu kommen, Solidarität zeigen zu müssen?

Monopoly-Spielbrett

Monopoly-Spielbrett

Ja, auch das. Das ist eine der traurigsten und ich denke auch gewollten Auswirkungen - dieses Feindbild ist ja von Politik und Wirtschaft sukzessive aufgebaut worden. Diese Ressentiments zu wecken, hat erschütternd gut funktioniert. Man hat die Menschen gegeneinander aufgehetzt, und das ist natürlich auch ein Grund, warum es statt Solidarität immer mehr "Rette-sich-wer-kann" und "Bloß nicht zu denen da unten gehören" gibt. Die "Unterschicht" selbst, das ist ja nicht wie "Arbeiterklasse" - das sind viele unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Geschichten und Gründen für Armut, sodass es ganz schwer ist, da Solidarität herzustellen, so wie damals die Arbeiterbewegung, die ja klare Ziele hatte, was Rechte betrifft.

Weiterlesen?

  • Kalt und kälter: Kathrin Hartmanns Buch "Wir müssen leider draußen bleiben" ist eine Philippika über die zunehmende Endsolidarisierung der Mittelschicht mit den Menschen, die an und unter der Armutsgrenze leben.

Diese Menschen sind durch diese Diffamierung auch stimmlos geworden, und das ist natürlich etwas unfassbar Trauriges. Es hat auch damit zu tun, dass es wahnsinnig viel Kraft kostet, wenn man wahnsinnig damit beschäftigt ist, sein Leben zu organisieren und sich halbwegs in Würde um die Kinder zu kümmern - das mag mit ein Grund sein, wieso es da zu so wenig Solidarität kommt.

Du hast gesagt, es wurden über Jahre hinweg Feindbilder aufgebaut - von wem eigentlich? Wenn man sich die Politik heute ansieht beispielsweise in ihren verzweifelten Bemühungen, Griechenland zu - ich nenne es jetzt so, wie es in vielen Schlagzeilen zu lesen ist - retten, hat man ja nicht den Eindruck, dass hier eine präzise ausgeklügelte Strategie gefahren wird...

Ja, aber das ist natürlich eine sehr gute Verschleierungstaktik, denn im Grunde geht's ja gar nicht ums Retten sondern ums Unterjochen. Was sich da in Griechenland abspielt, kann man eine humanitäre Katastrophe nennen. Es ist schon geschürt worden, beispielsweise in Deutschland, als Hartz IV umgesetzt wurde, gab es vom Wirtschaftsministerium eine Broschüre, die veröffentlicht wurde, die unter jeder Kanone war. Da stand sogar der schöne Satz drinnen, "Lebewesen, die auf Kosten ihres Wirts leben, nennt man in der Regel Parasiten" - das hätte genauso gut ein Flugblatt einer rechtsradikalen Partei sein können. Dann wurde ja über Jahre hinweg gesagt, "Eigenverantwortung/wir müssen den Gürtel enger schnallen/es gibt kein Recht auf Faulheit" - so hat ja der damalige Bundeskanzler Schröder die Agenda 2010 vorgestellt: wer sich's auf Kosten der Allgemeinheit schön macht, wird bestraft. Das wurde schon ganz massiv von der Politik befördert.

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Musikalisches, Politisches, Gesellschaftliches findet sich hier in seiner Gesamtlänge, denn Interviews sind selten nach den im Radio gewohnten drei Minuten vorbei.

Ist diese Hinwendung zu Themen, die dich ja auch betreffen, belastend oder ein notwendiger Bewusstseinsschritt?

Beides, da ich ja auch was lerne dabei. Da fühlt man sich gleich weniger ohnmächtig - aber natürlich gibt es auch Tage, an denen ich am liebsten nur über liebe Kaninchen schreiben würde...

Und weiter?

Über verschwiegene Armut, mehr Helfer als Katastrophe und wie der Ausdruck "Hartz IVler" die Industrie beflügelt: das ganze Interview mit Kathrin Hartmann steht eine Woche lang als Stream zur Verfügung.

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