Erstellt am: 18. 9. 2012 - 18:13 Uhr
Kalt und Kälter
"Wir müssen leider draußen bleiben" ist ein Buch, das ich mit Bauchschmerzen gelesen habe, auch wenn es ein gutes geschriebenes, umfassend recherchiertes und wichtiges Buch ist. Es schürt Existenzängste, und die nährt auch schon der tägliche Blick in die Zeitung oder der Schritt vor die Haustür, denn ich wohne schräg gegenüber von einem Sozialmarkt. In Deutschland nennt man diese Freiwilligen-Organisationen, die die Ausschussware beziehungsweise den Müll der Supermärkte an Arbeitslose und Arme verteilen, Tafeln.
In meiner Straße steht fast jeden Tag eine lange Menschenschlange vor dieser Tafel und wartet mit Einkaufstrolleys und Kinderwägen auf den Einlass. Werde ich auch einmal dort drüben stehen? Das fragt sich auch die Autorin Kathrin Hartmann, die diese Märkte in Deutschland unter die Lupe genommen hat:
"Ich hab mir während der Recherche bei den Tafeln die ganze Zeit gedacht, hoffentlich werde ich niemals so arm, dass ich darauf angewiesen bin, dass mich Reiche mit weggeworfenen Essen abfüttern."
Stephanie Fuessenich
Im zweiten Quartal 2012 gab es in Österreich 6,8 Prozent mehr Arbeitslose als im Vorjahr. Sie und all jene, die unter der Armutsgrenze leben, also weniger als etwa 1000 Euro verdienen, dürfen bei den Tafeln einkaufen.
Die Menschen, die auf dieses Abfüttern angewiesen sind, werden immer mehr. Dennoch stellt Kathrin Hartmann den auf ehrenamtlicher Arbeit basierenden Sozialmärkten und Tafeln kein gutes Zeugnis aus.
Sie würden vor allem suggerieren, dass sie ein gesellschaftliches Bindeglied sind: Dort wo es keine Verteilungsgerechtigkeit gibt, würden sie eine herstellen. Doch das ist ein Trugschluss, denn im Prinzip entsorgen die Menschen, die auf Tafeln angewiesen sind, den übrig gebliebenen Wohlstandsmüll und damit auch das schlechte Gewissen der Konsumgesellschaft, die im Überfluss lebt.
Durch die Lebensmittelspenden sparen sich die Supermarktketten die Müll-Entsorgungskosten und können sich dafür sogar das Mäntelchen des sozialen Engagements überstreifen, genauso wie die ehrenamtlichen Tafel-Mitarbeiter, die laut Kathrin Hartmann den Tafel-Konsumenten sehr wohl spüren lassen, wer auf der richtigen Seite steht und wer nicht. Ansprüche darf man bei derartigen Stellen nämlich keine mehr haben. Wenn man zum Beispiel einen Salat wegen brauner Blätter doch nicht nehmen will, würde das sofort als Undankbarkeit gewertet. Und Dankbarkeit, so Kathrin Hartmann, ist doch die einzig geltende Währung bei der Müllentsorgung, die zugleich die einzige Leistung darstellt, die die Tafelbesucher noch zu bieten haben.
Karl Blessing Verlag
Das klingt sehr hart und diese Härte und dieser ungeschönte Blick auf die Realität ziehen sich durch das ganze Buch:
Indem Tafeln diesem Überschuss einen Sinn verleihen, erhalten sie das System Konsumgesellschaft, dessen wesentlicher Motor die Verschwendung ist: Sie steht für Fortschritt, Innovation und Zivilisation. Die nie versiegenden Warenströme demonstrieren existenzielle Sicherheit in einer Welt, in der es für eine wachsende Zahl von Menschen immer weniger Sicherheit gibt. Auf gewisse Weise suggerieren auch die Tafeln diese Sicherheit: Mit dem Verteilen des Überschusses wiegen sie die Gesellschaft in dem Glauben, dass in Deutschland keiner hungern müsse. Dabei kaschieren sie geschickt den Skandal der Armut in Deutschland, der für viele bedeutet, dass sie sich von dem wenigen Geld, das ihnen der Staat zukommen lässt, eben nicht ordentlich ernähren können.
Und an einer anderen Stelle heißt es:
Tafeln sind im Begriff, der Prototyp der neuen Freiwilligengesellschaft zu werden. In einer solchen würden einklagbare Rechtsansprüche schleichend durch eine unverbindliche Almosenökonomie ersetzt. Barmherzigkeit statt Bürgerrechte.
Durch Einrichtungen wie die Tafeln kann sich die Politik immer mehr ihrer Aufgabe entledigen, gesellschaftliche Teilhabe für alle zu gewährleisten. Deshalb werden die Tafeln auch mit Auszeichnungen überhäuft.
Kathrin Hartmann kritisiert nicht nur die Tafeln, sondern auch den immer radikaler werdenden Klassenkampf der Mittelschicht gegen Menschen, die es nicht (mehr) so gut haben. Im Interview beschreibt sie die wachsende soziale Kluft so:
"Das 'nach-Unten-treten' der Mittelschicht ist ein relativ neues Phänomen. Die Mittelschicht ist extrem vom Abstieg bedroht und will sich von denen da unten abgrenzen. Das ist natürlich ein Selbstschutzmechanismus, der einen auch selber legitimiert, dass man sich wahnsinnig anstrengt. Denn zu akzeptieren und zu sagen, ich kann machen was ich will und trotzdem bin ich von Abstieg bedroht, fällt uns allen sehr schwer. Aber es wäre natürlich nötig, genau das zu verstehen, dass wir alle davon betroffen sind und alle unter der Krise leiden, anstatt nach unten zu treten."
Die Politik würde dabei ihrerseits diesen Konkurrenzkampf in der Gesellschaft schüren und sich selbst dadurch aus der Verantwortung ziehen.
"Dieser Leistungsmythos ist im Grunde nur aufrechtzuerhalten, wenn man gleichzeitig sagt, die, die haben es deswegen nicht geschafft, weil sie was falsch machen und weil sie Sozialschmarotzer sind. Die Wahrheit ist im Grunde aber umgekehrt, die wahren Sozialschmarotzer sind die Reichen, die uns nichts davon abgeben, obwohl wir alle für ihren Wohlstand arbeiten."
Mosaik an Stimmungsbildern??
Buchrezensionen auf FM4
"Wir müssen leider draußen bleiben" ist ein Mosaik an Stimmungsbildern einer globalisierten Welt, in der die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden. Dabei lässt Kathrin Hartmann vor allem die von Armut betroffenen Menschen zu Wort kommen, seien es eine Ärztin und fünffache Mutter, die auf Hartz IV und die Tafeln angewiesen ist oder MikrokreditnehmerInnen in Bangladesch. 2006 haben Muhammad Yunus und seine Grameen Bank für die Vergabe von Mikrokrediten den Friedensnobelpreis bekommen. Kathrin Hartmann kritisiert, dass diese Kredite die Menschen in eine Schuldenspirale treibt, aus der man nur noch schwer wieder heraus kommt. Denn wenn man einen Kredit für Essen oder medizinische Versorgung aufnehmen muss, ist es fast unmöglich, das geliehene Geld plus Zinsen wieder zurückzuzahlen.
Die 400 Seiten von "Wir müssen leider draußen bleiben" sind mit atemloser, kalter Wut geschrieben. Immer direkt, manchmal polemisch, stets interessant. Gelegentlich vermisst man einen roten Faden, doch der wird durch den flüssigen Stil, in dem die Reportagen und Fakten beschrieben werden, wieder wettgemacht. Kathrin Hartmann kritisiert aber nicht nur, sondern nennt viele kleine Schritte aus der Misere. Und ganz im Sinne der von ihr sympathisierten Occupy-Bewegung schließt sie mit den Worten:
Wir sind viele. Wir haben uns. Es ist genug für alle da. Lassen wir uns also nicht zu Söldnern im Krieg der Reichen gegen die Armen machen - sondern leisten wir gemeinsam Widerstand.