Erstellt am: 31. 12. 2010 - 10:11 Uhr
Operation "Auf Achse"
Robert Peary oder Frederick Cook? Bis heute ist ungewiss, wer 1909 als erster den Nordpol erstürmt hat. Begonnen hat das Rennen um die Eroberung des nördlichen 90. Breitengrads bereits drei Generationen zuvor: mit den Karten des deutschen Kartografen August Petermann. Philipp Felsch hat dem vergessenen Humboldtschen Sohn nun ein literarisches Denkmal gesetzt. Er zeichnet ein detailliertes Profil des armchair explorer August Petermann und dem weltweiten Entdeckungsdrang in der Mitte des 19. Jahrhunderts; einer Zeit, in der es noch viele weiße Flecken und die letzten echten Helden auf der Erde gab.
Literaturverlag Luchterhand
Philipp Felsch hat Geschichte und Philosophie studiert und arbeitet als Wissenschaftshistoriker an der Technischen Hochschule Zürich. Seine wissenschaftliche Prägung schlägt sich auch auf das Buch nieder. "Wie August Petermann den Nordpol erfand" ist gespickt von Originalzitaten, spannt ein enges Netz historisch bekannter Weggefährten wie zum Beispiel Theodor Fontane, druckt zum Teil skurrile Karten ab und verweist in den Anmerkungen auf Originalliteratur und vorhandene Quellen. Mühelos schafft es Felsch, die bisweilen trockene Materie fesselnd wie einen Expeditionsbericht zu schreiben. Was Geschichtsbücher in der Schule oft nur versatzweise vermitteln, leistet dieses Buch: Ein Gefühl für die Menschen und deren Handlungen einer längst vergangenen Zeit zu schaffen.
Neuschnee - Bücher wärmstens zu empfehlen:
- Wetterpropheten: Wenn die Kühe oder Kälber bei schönem Wetter husten, schneit es zwei bis drei Tage später.
- Kannibalismus als Option: Jürg Amanns "Die Reise zum Horizont"
- Wilde Jagd: ein moderner Heimatroman von Lorenz Müller
- Es geht wieder los: Joshua Ferris übernimmt sich beim zweiten Roman
- Operation "Auf Achse": Philipp Felschs "Wie August Petermann den Nordpol erfand"
Darum geht´s:
Anfang des 19. Jahrhunderts packt den deutschen Kartografen August Petermann das Polarfieber. Sein Ziel, die Eroberung des Nordpols, sei die wichtigste Aufgabe in der Geschichte der Menschheit, meint Petermann. Allerdings ist er nicht der kühne Abenteurer, der selbst ins Eismeer segelt; Petermanns Eroberung findet im Kopf statt. Karten sind seine Obsession. Er ist besessen von der Idee, dass ein großes Dampfschiff nur eine kleine Schicht des arktischen Eises durchbrechen müsse, damit es vorm Nordpol auf ein offenes warmes Polarmeer stößt. Engländer, Deutsche, Österreicher und Amerikaner führte er mit seinen pseudowissenschaftlichen Karten aufs Packeis - und bisweilen in den Tod.
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Die erste Nordpoleroberung mit einem Boot - wie es sich Petermann im Zuge des offenen Polarmeeres vorgestellt hat - erfolgte erst 1958 mit Hilfe eines atombetriebenen amerikanischen U-Boots. Zwischen Meeresgrund und meterdicken Eisschichten schaffte es die Nautilus den Nordpol unter Wasser zu erreichen. Die sogenannte "Operation Sunshine" sollte den Sputnik-Schock vom Vorjahr, den ersten russischen Satelliten aus dem All, wettmachen und demonstrieren, dass die USA zu Zeiten des Kalten Kriegs unbemerkt bis zur Sowjetunion gelangen kann.
Der Schnee fällt in:
London, der damaligen Metropole der Geografie. Innerhalb von fünf Jahren hat sich der deutsche Kartograf August Petermann in England einen Namen machen können, wird sogar Geograf der Königin. Sein jäher Aufstieg ist zu Ende, als klar wird, dass der britische Offizier John Franklin im arktischen Eis verschollen ist und Petermanns Hypothese des offenen Polarmeeres nicht dazu beitragen kann, ihn zu retten. August Petermann muss nach Gotha ziehen und die Eroberung des Nordpols aus der deutschen Kleinstadt aus verfolgen.
Der erste Satz mit Schnee:
Ist zugleich auch der letzte. Vielmehr geht es in dem Buch um Eisschollen, die Antarktis und eingefrorene Schiffe wie die Erebus und die Terror.
"Franklin, der spurlos Verschwundene, besuchte England nämlich bei Nacht. Von Brighton bis Edinburgh begannen die Erebus und die Terror, durch die guten und schlechten Träume von britischen Frauen zu geistern: Teils dampften die Schiffe fröhlich voran, teils saßen sie im Eis fest, teils waren Tote im Schnee zu sehen."
Ewiges Eis oder Tauwetter?
Eindeutig ewiges Eis. August Petermann leidet im Laufe der Geschichte an zunehmender Paranoia. Er ist der Meinung, immer mehr Menschen versuchen ihn schlecht zu reden, seine Hypothese des offenen Polarmeeres zu verwerfen und seine Pläne für Polarexpeditionen zu sabotieren.
So liest sich das:
Luchterhand Literaturverlag
"Der Kartograf spielte auf der Klaviatur, die ihm als Deutschem (sic!) und als Landratte unter englischen Nautikern die einzig gemäße war: auf der Klaviatur der Wissenschaft. Man braucht sich nur den Satz anzuhören, mit dem er im Athenaeum das ihm erteilte Wort ergriff: Das Franklinproblem müsse, schrieb Petermann, 'mit den Prinzipien, die die Verteilung der gasförmigen und flüssigen Hülle der Erde regulieren, in Verbindung gebracht werden'. So hatte sich zu Franklin noch niemand geäußert. Noch niemand war auf die Idee gekommen, Englands größtes Mysterium als Frage einer physikalischen Verteilung zu behandeln. Das Humboldtsche Zauberwort! Das Wort, das auf Wirbelstürme und Säugetiere ebenso passte wie auf den Alphabetisierungsgrad der Briten oder ihre letzte Choleraepidemie. Das Wort, dem Keith Johnston in Edinburgh eine ganze bunt schillernde Kartenwelt gewidmet hatte - mit mehr oder weniger tatkräftiger Unterstützung seines Zöglings Petermann."
Und das lernen wir daraus:
Weitere Buchrezensionen
Dass man Menschen mit dem Zauberwort "Wissenschaft" von allen Ideen überzeugen kann, mögen sie auch noch so abwegig und passe sein. Und dass es viel Mut erfordert, seine eigenen Ideen zu verwerfen.
Ist wärmstens zu empfehlen für:
Historisch Interessierte und geografisch Wissbegierige. Für Geocacher und Entdecker des Alltags. Und für Wladimir Putin, der nur darauf wartet, dass das ewige Eis dank Klimaerwärmung geschmolzen ist, damit er die Erdölreserven des Nordpols ausbeuten kann (wenn er nicht gerade damit beschäftigt ist, seine größte politische Gefahr Michail Chodorkowski kalt zu stellen).