Erstellt am: 28. 12. 2010 - 12:47 Uhr
Perchten, Kühe und Enzianschnaps
Wo fällt der Schnee schöner als in den Alpen? Was passt besser in die Adventzeit als eine Liebesgeschichte, Naturverbundenheit, innere Einkehr und eine einschneidende Familientragödie?
Christian Lorenz Müller
Christian Lorenz Müllers Romandebüt hat all das zu bieten. In "Wilde Jagd" verarbeitet der gelernte Trompetenbauer diese denkbar unoriginellen Sujets zu einem Leseerlebnis, das alle Vorurteile gegenüber Heimatliteratur vergessen macht. Dazu muss Müller nicht erst idealisierte Almpanoramen karikieren oder das reaktionäre Weltbild hinter einer urtümlich-bäuerlichen Idylle entlarven. Seine Figuren leben im Hier und Jetzt, haben die technisierte Milchwirtschaft als Selbstverständlichkeit angenommen und sind nicht mehr und nicht weniger reflektiert als der durchschnittliche Stadtmensch. Was das Buch darüber hinaus lesenswert macht, ist die sprachliche Verspieltheit des Autors. Müller, der 1972 in Rosenheim geboren ist und heute in Salzburg lebt, hat bisher hauptsächlich Lyrik geschrieben. Seine Wortkreationen und Sprachbilder, die er in den verdrehten Satzbau der süddeutschen Mundart einbaut, bringen den Neuschnee unserer winterlichen Lesestoff-Serie wahrhaft zum Glitzern.
Neuschnee - Bücher wärmstens zu empfehlen:
- Wetterpropheten: Wenn die Kühe oder Kälber bei schönem Wetter husten, schneit es zwei bis drei Tage später.
- Kannibalismus als Option: Jürg Amanns "Die Reise zum Horizont"
- Wilde Jagd: ein moderner Heimatroman von Lorenz Müller
- Es geht wieder los: Joshua Ferris übernimmt sich beim zweiten Roman
- Operation "Auf Achse": Philipp Felschs "Wie August Petermann den Nordpol erfand"
Der Schnee fällt in:
Schattleiten - eigentlich ein kleines Dorf in Oberösterreich. Christian Lorenz Müller verlegt es allerdings in die Berchtesgadener Alpen in Oberbayern, knapp an die Grenze zu Salzburg. Dort lebt der fast 40-jährige Landwirt Emmeran bei der Familie seines Bruders auf einem abgeschiedenen Bauernhof.
Darum geht's:
Emmeran kümmert sich um die Milchkühe im Stall, bewirtschaftet das kleine Stück Wald der Familie, und schnitzt in seiner Freizeit am liebsten Perchtenmasken. Reden ist nicht seins. Am offensten ist er noch gegenüber seinem Neffen Johannes, der mit seinen 16 Jahren immer mehr über die Vergangenheit der Familie wissen will. Da passiert eines Tages ein Unfall: Beim Fichten Schneiden fällt Johannes in Emmerans laufende Motorsäge. Er überlebt nur knapp - und Emmeran beginnt langsam, sich den unangenehmen Fragen seines Neffen zu stellen.
Der erste Satz mit Schnee: fällt schon auf Seite 13:
Warum war es plötzlich so winterlich in seinem Kopf, warum fiel der Schnee so wattig und weiß auf seine Gedanken, alles wurde rundkantig in diesem Raum, es roch jetzt nicht mehr nach Krankenhaus, sondern nach Schnee, unaufhörlich fielen Flocken auf seine Schultern, seinen Rücken, schwere nasse Flocken, die ihn in Richtung Erde drückten.
Schnee steht als Methapher für:
Die Schuldgefühle, die sich Emmeran wegen des Unfalls macht. Außerdem lastet eine Menge Ungesagtes auf ihm. Wie eine schwere Schneedecke hüllt es seinen Alltag auf dem Hof in manchmal unerträgliches Schweigen.
So liest sich das:
Die Gedanken zuckten und sprangen durch Emmerans Gehirn, hinauslassen hätte er sie wollen aus seinem Kopf, seinem Mund, aber sein Mund war eine Türe, an der er rütteln konnte, wie er wollte, sie klemmte und ging nicht auf. (Seite 19)
Hoffmann und Campe
Ewiges Eis oder Tauwetter?
Tauwetter. Johannes' Unfall löst Emmeran aus seiner emotionalen Erstarrtheit, die alte Traumata konserviert hat. Gedankliche Rückblicke legen Stück für Stück Emmerans Beziehung zum alkoholkranken Vater frei - dem gern auch einmal die Hand ausrutschte - und enthüllen ein familiäres Geheimnis. "Wilde Jagd" schildert so quasi eine therapeutische Vergangenheitsbewältigung. Emmeran muss da aber nicht alleine durch. Die junge Krankenschwester Katja, die regelmäßig auf den Hof kommt, um Johannes zu untersuchen, hilft, Emmerans Schweigen zu brechen. Müller versieht ihr Auftreten stets mit einer Menge Metaphern, in denen sie Emmeran als wärmende Sonne erscheint, die ihn mitsamt seinem verkrusteten Innenleben regelrecht dahinschmelzen lässt. "Stallwarm" wird Emmeran in ihrer Gegenwart, obwohl er doch sonst immer bei "strengem Frost" am besten geschlafen hat.
Und das lernen wir daraus:
Liebe am Bauernhof, eine schwere Kindheit und Milchkühe müssen noch lange keine Almkitsch sein. Christian Lorenz Müller bricht die traditionellen Heimatroman-Klischees und macht aus altbekannten Motiven eine berührende und spannende Geschichte.
Ist wärmstens zu empfehlen für:
LandbewohnerInnen und Stadtmenschen, die eine bäuerliche Idylle genießen können, ohne sie zu verklären, die sich an kühnen Wortkreationen und poetischen Einsprengseln erfreuen, und denen die schiachn Perchten im Winter immer schon unheimlich waren.