Erstellt am: 27. 12. 2010 - 11:03 Uhr
Neuschnee - Bücher wärmstens zu empfehlen
haymon verlag
Jürg Amann: "Die Reise zum Horizont." Novelle. Haymon Verlag 2010
Der Schnee fällt in:
Den Anden – zwischen Chile und Argentinien und doch im Nirgendwo.
Der erste Satz mit Schnee:
"Um uns herum nichts als Eis und Schnee, und hie und da ein Stück dunkler Fels, das durch das Weiss hindurchschien oder hindurchstiess." (Seite 11)
Schneeart:
Ewiges Eis, das mit viel zu viel Neuschnee aufgefrischt wird.
Schnee steht als Metapher für:
Die kalte Naturgewalt, die gnadenlos jede Art der Zivilisation zudeckt.
Weiße Pracht oder Weiße Gefahr?
Eindeutig Weiße Gefahr - es beginnt mit den weißen Bergspitzen, die sich mit Nebelwolken zu einem undurchlässigen Dickicht vermischen. In diesem stürzt ein Flugzeug ab. Schnee bedeckt die Katastrophe, die Flugzeugteile, die Toten. Lawinen gehen auch noch ab. Immerhin dient Schnee auch als Grundnahrungsmittel.
Neuschnee - Bücher wärmstens zu empfehlen:
- Wetterpropheten: Wenn die Kühe oder Kälber bei schönem Wetter husten, schneit es zwei bis drei Tage später.
- Kannibalismus als Option: Jürg Amanns "Die Reise zum Horizont"
- Wilde Jagd: ein moderner Heimatroman von Lorenz Müller
- Es geht wieder los: Joshua Ferris übernimmt sich beim zweiten Roman
- Operation "Auf Achse": Philipp Felschs "Wie August Petermann den Nordpol erfand"
Darum geht's:
Am 13. Oktober 1972 streift ein Flugzeug in den Anden einen Berggipfel. Die Flügel und das Heck brechen weg, der Rumpf des Flugzeuges kommt irgendwo zwischen Chile und Argentinien zu liegen. Von den 45 Menschen an Bord sterben zwölf direkt nach dem Absturz, einige erfrieren in der ersten Nacht bei Temperaturen bis minus 30 Grad. Die Überlebenden hoffen im Rumpf der Maschine auf Rettung. Aber vergeblich. Übers Radio erfahren die Wartenden, dass man die Suche nach ihnen beendet hat, dass man sie aufgegeben hat. Die wenige Nahrung ist bald aufgebraucht, es gibt nur mehr Schnee und die Leichen. Die Überlebenden beginnen die Toten zu essen. Jürg Amann beschreibt den Überlebenskampf, die Entwicklung zum Kannibalismus distanziert und ohne jeden Voyeurismus. Die Sprache ist lakonisch, geradezu frostig. Da ist kein Wort zu viel - trotz häufiger Wiederholungen, die die Aussichtslosigkeit der Katastrophe unterstreichen.
1972 wurden übrigens die restlichen Überlebenden am 22. und 23. Dezember gerettet. Man sprach damals vom Weihnachtswunder der Anden.
Marianne Fleitmann
Wie viel Schnee kommt vor?
Das ewige Eis und täglich mehr - dennoch spüren die Überlebenden irgendwann Frühlingsgefühle.
So liest sich das:
"Wir sprachen davon, Menschen zu essen. Nein, wir sprachen davon, zu essen, damit wir nicht starben, und da gab es eben nur Menschen, in unserer jetzigen Situation. Das war etwas anderes. Das sagten wir uns, so redeten wir uns zu. Einer dem anderen und jeder sich selbst. Es war ekelhaft."
Und das lernen wir daraus:
Im Flugzeug immer angeschnallt bleiben. Und vielleicht mit dem Sitznachbarn klären, wie das mit Kannibalismus so ist.
Jürg Amann liest am 27.1. um 19.00 Uhr in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, Herrengasse 5,
1010 Wien.
Ist wärmstens zu empfehlen für:
Leute, die ihre Flugangst begründen wollen. Für Leute, die Extremsituationen suchen. Viel mehr aber noch für Leute, die gern nachdenken, etwa darüber, ob sie in einer derartigen Situation zu Kannibalismus fähig wären. Denn Jürg Amann lässt die Leserinnen mit der Frage zurück, was man selbst tun würde. Die Antwort ist nicht so leicht.