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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

19. 8. 2010 - 23:37

Party bis zum Delay

Philosophie und weinende Löwen mit Kommando Elefant, Get Well Soon und Mumford and Sons, Disco mit Hot Chip, La Roux und Jan Delay beim FM4 Frequency Festival.

  • Der FM4 Frequency Videoblog: Das Festival in bewegten Bildern
  • Von Muse geküsst: Eine gewohnt opulente und doch ungewohnt zurückhaltende Headlinershow der Briten Muse als Krönung des ersten Tages.
  • Fuck the Pain away, for real: Pulled Apart By Horses, The Cribs, Peaches, Shout out Louds, Skunk Anansie, NOFX
  • Party bis zum Delay: Kommando Elefant, Get Well Soon, Mumford and Sons, Hot Chip, La Roux, Jan Delay
  • Campwalk: Das FM4 Frequency Festival als Ausstellungsfläche verschiedener Kunst- und Lifestylerichtungen.

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"Wenn ich dich sehe, bleibt mein Herz stehen." Ein wunderschöner Slogan, eine Liebeserklärung in deutscher Sprache, die einmal nicht schmalzig klingt. Kommando Elefant, die erste Band des ersten Tages am FM4 Frequency Festival, liefern die passenden Slogans für den großartigen Mix von musikalischen Stilrichtungen, der uns in den nächsten Tagen im Green Park St. Pölten bevorsteht.

Während sich die Green Stage langsam füllt, verbreiten Alf Peherstorfer und Luis Pasching mit Band bereits ihre warmen Popsongs. Da quietscht es in jeder Ecke, rockt stadiontauglich, swingt geschmeidig und schrammelt Kottan-mäßig. Die Herrschaften aus Wien haben in ihrem kurzen Set nur wenig Zeit. Referenzen in ihren Songs aus "Kommt wir hauen Granaten rein. Das kleine bisschen Leben" kommen trotzdem vor. Etwa Ton Steine Scherbens "Macht kaputt was euch kaputt macht" in "Falsche Helden" findet genauso Platz wie die Hommage an eine Stadt wie "Alaska". Oder auch "Party bis zum Untergang". Besser kann man so ein Festival nicht beginnen.

Philosophische Abhandlungen und weinende Löwen

Wie passt Philosophie auf eine Festivalbühne? Antwort: Gut. Eine fast schon dramatische Einleitung finden Get Well Soon vor ihrem Auftritt. Obwohl die instrumentalen Klänge des Titelsongs aus "Twin Peaks" von Angelo Badalamenti zum Auftritt von den Cribs gehören, die auf der anderen Bühne rocken, passen diese Töne auch zu der düsteren, hochphilosophischen Musik von Konstantin Gropper. Sein Album "Vexations" ist eine Abhandlung des Schmerzes und der Ärgernisse aus unterschiedlichen Perspektiven, mit Referenzen zum Stoizismus, Seneca und Werner Herzog.

Es ist eine Leistung diese bedeutungsschwangere Musik auf eine Festivalbühne zu bringen, doch Get Well Soon üben sich in arrangierter Raffinesse: mit Trompete und weiblichem Background-Gesang. In einer Textzeile verweist Gropper auch auf Rilke, genau genommen auf "Du musst dein Leben ändern". Ein weiterer interessanter Slogan für ein Festival dieser Klasse.

Und dann kommen sie: Der erste Österreich-Gig von Mumford and Sons wird zu einem Pilgerfest für Ewig-Verliebte und vereinsamte Löwen, zu einer frühen Uhrzeit, die das gar nicht erwarten lässt. Die Green Stage ist zum ersten Mal gefüllt. Mädels mit Schmetterlingsflügeln auf ihrem Rücken tanzen umarmt zu den akustischen und harmonischen Songs der Jungs um Marcus Mumford. Von vereinsamten Männerherzen, die noch auf dem Album "Sigh No More" ihre Lethargie und Trauer auf gekonnt energische Art und Weise zelebrierten, ist auf der Green Stage nichts mehr zu spüren. Gitarre, Keyboard, Kontrabass: Das Grundgerüst von Mumford and Sons wird durch harmonische Bögen und nicht etwa durch laute Akkorde errichtet. Ein Schlagzeug gibt es nur bei zwei Songs: bei beiden spielt das Quartett selbst die Rhythmen. Und auch eine Bläsersektion kommt einmal zum Einsatz, unter anderem bei einem völlig neuen Stück.

Davor pure Freude von den vieren, die ihren ersten Österreich-Gig mit deutschen Vokabeln aufbesserten und einem Publikum, das einem Bandmitglied ein "Happy Birthday"-Ständchen bringt. Hits wie "Little Lion Man" werden genauso willkommen umarmt, wie neue Stücke des noch unbetitelten zweiten Albums.

Rock? Rock! Disco? Disco!

The Gaslight Anthem würde ich als „zeitlose Rockmusik“ bezeichnen. Nina Hofer hat die vier Jungs aus New Brunswick mit dem Attribut „zum Wippen, Mitsingen und Mitlächeln“ beschrieben und trifft damit auch den Nagel auf den Kopf. Die Band stellt bei ihrem Auftritt auf der Green Stage alte Songs aus „The 59 Sound“ und neue Stücke des Werkes „American Slang“ vor, eine Mixtur aus unterschiedlichen Einflüssen. Von reiner Rockmusik zu sprechen wäre ein Hohn, wenn man doch vor allem vom jüngeren Bruce Springsteen, Otis Redding und Marvin Gaye inspiriert wird. Hardcore-Einflüsse bleiben bei allen Ausflügen in andere Genres, aus denen man frech kopiert, vorhanden. Ich bin bei diesem Auftritt positiv überrascht: Die Melodien sind eingängig, die Refrains persuasiv und berührend zugleich.

Hot Chip sind nach Mumford and Sons der zweite große Höhepunkt auf der Green Stage. Die treibenden Kräfte hinter Hot Chip sind Alexis Taylor und Joe Goddard. Gemeinsam mit ihren Mitmusikanten auf der Bühne experimentieren sie ihre soulvollen Hymnen aus „One Life Stand“ zu einer tanzbaren Mischung. Das ist Musik aus der Zukunft, ein Sprung ins Niemandsland der modernen Dance Musik. Moderne Tanzmusik muss aber nicht aalglatt klingen, sie darf hier und da auch bumpern und pulsieren. Wie der eigene Körper nach Mitternacht auf dem Dancefloor. In ihren Soundwelten auf der Bühne erreichen sie Sphären, die einen Spagat vollziehen, der von Curtis Mayfield bis Derrick May reicht.

Schwebende Dance-Rhythmen wohin man schaut, aber vor allem ein Gefühl wie auf dem Dance Floor, wo man die Augen schließt, sich von den Beats treiben lässt und dabei die Zeit vergisst. Soundtechnisch schicken Hot Chip das Publikum in einen reinen und klaren Klangkosmos. Man stelle sich das am besten so vor: Die Band transportiert ihre wilde Tanzparty mit synthetischen, bewusstseinserweiternden Mitteln und macht aus einem „One Night Stand“ einen „One Life Stand“, eine völlig andere Botschaft. Stücke wie der Titelsong kokettieren frech mit 90er Jahre Euro-Dance-Anleihen, sind dabei aber trotzdem so frisch wie eh und je.

Legenden und Fabelwesen

Dann betritt eine wahre Institution die Bühne, ein Urgestein des Punkrock. Eine kleine Anekdote zu Beginn: Zwei Freunde stehen bei Bad Religion und führen eine Diskussion. A sagt: "Ich kenn von Bad Religion nur einen Song." B: "Ich auch." Beide: "Punk Rock Song!". Abgesehen davon, dass Bad Religion weitaus mehr als nur einen bekannten Song aufzuweisen haben, beschreibt dieser Wortwechsel doch alles, was diese Band ausmacht. Seit genau 30 Jahren tourt die Gruppe mit dem durchgestrichenen Kreuz als Logo durch die Lande. Das Symbol ist nicht nur reine Provokation, Religion ist weitaus mehr als auf das Kreuz zu reduzieren. Sozialkritische Texte sind das Markenzeichen der Band aus Los Angeles, der Stadt der Engel. Alles verpackt in Gitarrenriffs, die auf keiner Headbanger-Party fehlen dürfen. Die Songs klingen bei diesem Live-Set wie aus einem Guss - wer sich selbst davon überzeugen will, sollte einen Blick in ihre aktuelle Live-DVD "30 Years Live" werden. Letztens war es etwas ruhig um sie geworden, hat man sich doch hauptsächlich auf Soloalben konzentriert. Doch ein solches Comeback tut gut, auch wenn es zwischen Hot Chip und La Roux wie ein derber Stilwechsel wirkt.

Dann kommt das Fabelwesen Elly Jackson, ein Teil des Duos La Roux. Während sich nämlich der schüchterne Rotschopf mit Föhnwellenfrisur im Rampenlicht räkelt, schiebt Produzent Ben Langmaid, eng mit Faithless verbandelt, die Regler im Hintergrund. Zusammen haben sie ein unglaublich kristallin-poppendes Kaleidoskop an 80er Jahre Sounds zusammen gebastelt. Gerne wird Elly mit Kylie Minogue verglichen, ein Vergleich der jedoch hinkt. War Kylie in den 80ern noch ein blondes Pop-Girlie von nebenan, ist Elly das Gegenteil: eine undurchschaubare, kühl wirkende Femme Fatale aus einem Will Eisner-Comic.

Man spürt die Anleihen der 80er in jedem Synthesizer-Sound, der sich auf der Bühne verbreitet. Da ist immer etwas Kylie dabei, aber auch überraschenderweise die Rolling Stones. So covern La Roux in ihrem Set den alten Stones-Song "Under My Thumb" im Gefrier-Elektronik-Gewand. Danach Reminiszenzen an Michael Jacksons "Thriller", gepaart mit der Sirenenstimme von Elly. "Bullet Proof" wird ein Finale mit Mitsingcharakter. Hier spürt man, dass La Roux keine Lady Gaga sein will, aber man trotzdem bei ihr den knallroten Lippenstift rausholen möchte.

Wir Kinder vom Frequency-Soul

Eine wahre Ska-Legende hat einen prominenten Slot vor dem Hauptact Jan Delay: The Specials. Ihre Songs sind uns geläufig, vielleicht aber weniger aus den üblichen Kanälen. Songs der 1977 gegründeten Band werden vor allem gerne in der Werbung eingesetzt, u.a. ihr Hit „A Message To You Rudy“ in der Kampagne eines österreichischen Lotterie-Loses. Und die Specials sind wahrlich eine Ikone des Ska-Revivals, ihr Debüt wurde etwa von niemand Geringerem als Elvis Costello produziert. Die Band spielte schon damals vor ausverkauften Häusern, u.a. als Support von UK Subs und Gang Of Four. Sie vereinten die Wut des Punks mit dem Offbeat des frühen jamaikanischen Ska und brachten eine ganze Generation zum Tanzen. In einem von Arbeitslosigkeit und rassistischen Spannungen geprägten England imponierten sie, bestehend aus schwarzen und weißen Bandmitgliedern, mit ihrer Mischung aus Ska, Reggae und Punk.

Und was ist das für ein Set auf der Green Stage! Da sind die alten Haudegen, ergänzt durch Frischblut, und liefern eine Partystimmung, wie man sie sich in den 70ern wohl nur in den dunklen Kellerlöchern Londons erlaubt hat. Eine The Specials-Reunion bedeutet für die aktuelle Musikszene einiges: Sie ist ein Aufschrei einer früheren Generation, und was für einer nach La Roux!

Meine erste Begegnung mit Jan Delay war seine Cover-Version von „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“ von Nena, eine gelungene Adaption eines alten Schinkens, den man gerne unter den Begriff „Neue Deutsche Welle“ einordnet. Später folgten Duette mit Udo Lindenberg: Delay hatte schon immer Geschmack bereits Vergessenes in einen neuen Kontext zu transportieren. Damals noch bei den (Absoluten) Beginnern ist Jan Phillip Eißfeldt nur ein Teil eines größeren Kollektivs, aber der Mann hat sich in den letzten Jahren, ähnlich stark wie etwa Peter Fox, zu einem hervorragenden Solokünstler gemausert. Das begann mit einer kompletten Stilwandlung hin zum schneidigen Anzugträger mit Faible für soulige Hymnen der 70er. Gleichzeitig ist aber immer noch seine nasale Stimme im Vordergrund, das Näseln, das für die eine störend, für die andere der Wiedererkennungswert schlechthin ist.

Mit seinen Solo-Alben „Mercedes Dance“ und jüngst „Wir Kinder vom Bahnhof Soul“ gelingt es Jan Delay seine Liebe zu Funk und Soul auszuleben: üppige Bläser, funkige Beats, liebliche Backgroundgesänge. Und live funktioniert das einfach, wenn Delay mit seiner ganzen Truppe auf der Bühne steht und er selbst vor ihr wie ein Dompteur herumstolziert. Das Potenzial, das Funk und Reggae besitzen, serviert Delay auf der Bühne schweißgetränkt einem ebensolchem Publikum und da fragte man sich noch: War Muse wirklich besser?