Erstellt am: 2. 6. 2010 - 10:54 Uhr
Crystal Castles
Hab beim Recherchieren gerade bemerkt, The Burning Ear hat seine Review mit demselben Satz begonnen. Ur lustig.
Nichts ist einfacher, als die Crystal Castles zu hassen.
Und auch sonst gibts einige Parallelen zu "Sex And The City".
Sängerin Alice Glass hat als Stilikone der ausgehenden Nullerjahre die Cool-List des NME angeführt, sie stehen auf Chanel, unter Fans gibt es einen unfassbaren Hype und jetzt ist Teil 2 dran.
Pardon, Teil (II). So - (II) - nennen Vertriebe und so das neue Album, weil es blöderweise genauso heißt wie das erste, nämlich Crystal Castles. Und über (II) zerreißen sich diverse Leute das Maul. Und während du dir wünscht, du hättest im Internet diesen Kreditkartenreißwolf bestellt, dem du jetzt nur zu gern deine e-Card zum Fraß vorwerfen würdest, murmelst du wohl Haben die keine anderen Sorgen?
Verwirren und Verstecken
Das 2010er-Album der Crystal Castles ist auf Fiction/Polydor/Universal Ende Mai erschienen.
fiction
Nein. Weils bei den Crystal Castles nämlich nicht nur um Musik, Distinktion oder den Kulturbegriff geht, sondern um alles zusammen. Diese Band kann Leben verändern. Sie sind Punk für alle, die Punkmusik verstaubt finden. Sie sind Archäologen für alle, für die die Vergangenheit ungefähr vor einer Woche beginnt, allerfrühestens aber in den 1980ern. Alice Glass ist das It-Girl für alle, die It-Girls hassen. Ethan Kath ist die Big Band der Lo-Fi-Enthusiasten.
Die erste CD der Crystal Castles war einer dieser seltenen Zufälle, wo plötzlich mit einem Schlag Gegensätze ausgelöscht worden sind. Musik-Auskenner und Mode-Opfer, Punks und Nerds, Kulturpessimisten und Eskapistinnen waren schlagartig der einhelligen Meinung, dass die Crystal Castles total super, wunderschön, innovativ und lustig sind.
Das alles nur wegen übersteuerter Chip-Sounds, einer zerhäckselten Stimme, die einmal esoterisch-sphärisch und dann wieder mit Punk-Attitude daherkommt. Dazu elektronischer Krach, der zwar die Sicht auf den Song verstellt, ohne den das Konzept aber nicht funktionieren würde.
Damit liegt die Latte fürs zweite Album hoch. Auf dem erfinden sich die Crystal Castles nicht neu. Das müssen sie auch nicht. Sie gehören der seltenen Art von Bands an, deren Name (Crystal Castles) synonym mit der Musikrichtung (Crystal Castles) ist. Trotzdem lästern die Freundinnen und Freunde von experimentierfreudiger Lärmmusik über den Pop-Zugang. Die Freundinnen und Freunde der Chiptunes-Ästhetik über den Lärm im Allgemeinen. Und alle lästern darüber, dass die Crystal Castles ja nur deswegen so beliebt sind, weil die Sängerin so ein scharfes Teil ist.
Das ist alles Unsinn, beziehungsweise Jammern auf allerhöchstem Niveau. Die Crystal Castles machen nämlich nicht nur coole Songs, sondern sind sowas wie ein Gesamtkonzept. Die wichtigsten Zutaten: Verwirr- und Versteckspiel.
Täuschen und Enttäuschen
crystal castles
Bestes Beispiel, die Liveauftritte. Beim FM4 Frequency Festival haben sie letztes Jahr auf der Nachtbühne gespielt. Aber das fassungslose Publikum erlebt einen Nicht-Auftritt. Fans haben sich fein herausgeputzt, sich Crystal Castles Shirts angezogen und warten auf die Party zum Abshaken. Aber die passiert nicht. Auf der Bühne: Dunkelheit. Im ultraschnellen Stroboskopgewitter lässt sich nur erahnen, was Alice Glass da auf der Bühne macht. Die Ohren verraten nur eines: singen tut sie nicht. Sie verrenkt sich, reckt das Mikro in die Höhe, wälzt sich am Boden, stranguliert sich beinahe am Mikrofonkabel. Vom Band kommen nur die Beats.
Seit dem Donaufestival 2010 sagen wir zu sowas Ja, Panik - Effekt. Die Band nimmt sich selbst auseinander, bevor es das Publikum kann. Und das ärgert sich, weil man ihm zuvorgekommen ist. Erwartungshaltung ist was für Deppen. Crystal Castles verstehen sich nicht als Dienstleister sondern als Kunst.
Vermute ich zumindest. Weil Interviews geben Ethan und Alice aktuell gerade nicht. Mal wieder eine Versteckphase. Zum ersten Album haben sie noch einfach irgendwelche Bekannte und Freunde zu Interviewterminen geschickt, die sich dort als Crystal Castles ausgegeben haben.
Verwirren und Verstecken. Täuschen und Enttäuschen. Auf der neuen Crystal Castles CD wird dir nichts vorgefertigt serviert. Was zur Hölle Alice Glass da eigentlich singt, bleibt deiner Fantasie überlassen. Welche schönen Melodien sich da erschließen könnten, wäre der Song ordnungsgemäß produziert, musst du dir auch selbst ausmalen. Die Wahrheit ist relativ.
Was ist jetzt neu an den neuen Liedern?
Die Crystal Castles haben auf ihrem Equipment anscheinend eine neue Einstellung gefunden. Einen Knopf, auf dem Sphärischer Sound für schlechte Filmsoundtracks draufsteht. Breitwandige Synthies, die dem abgehackten Sound ab und zu etwas Kleber schenken, damit der Track nicht auseinanderfällt. Das klingt dann ab und zu beinahe romantisch (wie in Empathy oder Celestica, was auch im Radio läuft).
Trotzdem gibts immer noch die Musik, zu der Alice am liebsten ihre Erstickungsfantasien performt. Doe Deer zum Beispiel. Großraumdisco-Sequencer der Neunziger trifft auf nervöse Hysterie in der Stimme und einen Soundbrei, wie ihn dein Handy direkt neben dem größten Lautsprecher am Samstag Abend im bummvollen Club aufnehmen würde. Nach 1:30 ist alles wieder vorbei.
So weit, so Crystal Castles. Dass sie sich auch weiterhin weigern, auch nur irgendeine Regel des guten Songwriting zu akzeptieren, dabei aber auch vor 5-Minuten-Nummern nicht zurückschrecken (wie Vietnam), ist allerdings neu.
Und sonst noch?
Die Crystal Castles kommen angeblich aus Toronto, das liegt in Kanada. Produziert wurde es von Ethan an eigenartigen Orten, darunter angeblich eine Kirche in Island. Ein Typ, der im Internet Sanderkip heißt, hat das Album vor Veröffentlichung von irgendeinem Musikbonzen-Server heruntergeladen und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, sprich geleakt. Er kriegt jetzt massiv Probleme. Beim Track Year Of Silence ist ein Sigur Rós Sample zu hören.
Und, ist (II) jetzt gut oder schlecht?
Auf den neuen Liedern ist alles falsch und alles richtig.
13.11.2010: Crystal Castles Flex, Wien
Ich finds super, aber ich bin ja auch ein Fan. Wer sich von dieser Review nicht hat abschrecken lassen, sollte sich das Album durchaus geben. Wenn du von den Crystal Castles noch nie was gehört hast, dann hör dir trotzdem lieber das erste von vor zwei Jahren an. Nicht, weil es besser wäre, sondern weil es den Sound der Band komprimierter rüberbringt und direkter ins Hirn fährt.
Wenn (I) das Album zum Aufputschen vorm Weggehen ist, dann ist (II) das richtige Album, wenn du von einer irren Nacht nach Hause kommst, aber immer noch nicht schlafen kannst.