Erstellt am: 13. 10. 2009 - 22:04 Uhr
15 Viennale Momente
Bitte nicht böse sein, aber ersparen wir uns an dieser Stelle einmal jegliche programmatische Ansagen. Es ist Mitte Oktober, für alle in Wien lebenden Menschen mit Filmaffinität also demnächst Viennale-Zeit.
Elendslange Schlangen dürften sich wieder vor bestimmten Innenstadtkinos bilden, es wird über Film leidenschaftlich diskutiert, hitzig gestritten, auch mit etlichen Filmen einfach nur geposed. Es werden Parties gefeiert, Regisseuren dürfen auflegen, Schauspieler erzählen, die Rahmenprogramme sind vielfältig, das eigentliche Programm wieder extrem umfangreich.
Natürlich vermisse ich persönlich, wie jedes Jahr, etliche potentielle Highlights, aber gerade heuer überrascht die Viennale auch mit Werken, mit denen ich gar nicht gerechnet hätte. Hier ein kleine Auswahl nach dem ersten ausgiebigen Studium des Katalogs...
Die Einsamkeit des Astronauten
Die besten Science-Fiction-Filme enthalten weder Prinzessinnen mit seltsamen Frisuren noch Laserschwerter oder Autos, die sich in Kampfroboter verwandeln. Sie erzählen stattdessen, frei von Infantilitäten, von grimmigen Zukunftsängsten, von Paranoia und der Verlorenheit des Menschen im All. Duncan Jones, der Sohn von David Bowie, knüpft in seinem Spielfilmdebüt "Moon" (GB 2008) an diese existentialistische Sci-Fi-Tradition an. Kubrick lässt grüßen, der wunderbare Sam Rockwell darf sich in einem Ein-Personen-Stück austoben.
Viennale
Der Sinn des Lebens
Charlotte Gainsbourg. Willem Dafoe. Dunkle Wälder. Sprechende Füchse. Genitalien. Blut. "Antichrist" (DK/D/F/S/I 2009) erlebt auf der Viennale seine österreichische Uraufführung. Nuff said. Lars von Trier hat immer Recht, auch wenn er sich irrt.
Viennale
Die Schönheit des Fallens
Ich kann leider nichts zu dem österreichischen Regisseur Patric Chiha sagen, der in Paris lebt und arbeitet. Aber ich weiß, dass sich in seinem neuen Film "Domaine" (F/A 2009) ein junger Mann in eine vierzigjährige Mathematikern verliebt, die dem Alkohol verfallen ist. Und diese strauchelnde Frau wird von der göttlichen Beatrice Dalle gespielt. Und Beatrice Dalle, die schon so viele strauchelnde, selbstzerstörerische, dem Fallen verfallene Frauen gespielt hat, kommt nach Wien. Und das ist meine persönliche Viennale-Sensation.
Viennale
Die Königin des Andersseins
Noch eine grandiose Frau, die unzählige komplexe und ambivalente Figuren im Underground und Mainstream verkörperte, beehrt Wien mit einem Besuch. Weil die Viennale verdienterweise Tilda Swinton ein Tribut widmet. Unter den dazugehörigen Filmen ragt für mich besonders "Julia" (USA/F/Mexiko/B 2007) von Erick Zonca heraus. Obwohl dieses Alkoholikerdrama viele Schwächen hat, macht Tilda Swinton mit ihrer furiosen Performance alles wett.
Viennale
The Downward Spiral
Ich habe diesem Projekt mit Skepsis entgegengeblickt, aber die hymnischen Stimmen mehren sich. Der legendäre Regiesonderling Werner Herzog greift mit dem für lustiges Overacting bekannten Nicolas Cage einen Absturz-Klassiker par excellence auf: "Bad Lieutenant" vom anarchischen Abel Ferrara. Die Viennale zeigt das delirierende Original von 1992 und "Bad Lieutenant: Port of Call New Orleans" (USA 2009) im Doppelpack. Um Drogen, Drinks, Sex, Tod und Gott kreisen beide böse Polizisten-Thriller. Mit dabei im Gepäck sozusagen sind brandneue Dokus der Herren Ferrara und Herzog.
Viennale
Die Augen des Vincent G.
Francis Ford Coppola hat irgendwann mal die besten Filme der Welt gemacht, ich sage jetzt nur "The Conversation" oder, ja, "Apocalypse Now". Dann wurde er, wie die meisten guten alten Männer, etwas senil. Mir ist das aber egal, denn sein neues Familiendrama "Tetro" (USA/I/E/Argentinien 2009) gestattet ein Wiedersehen mit the one and only Mr. Vincent Gallo. Und mir sind auch dessen rechtskonservative Ansagen egal. Zwei Stunden lang sind diese stechenden, schönen, unwirklichen Augen wichtiger als Kunst oder Politik.
Viennale
Der Blick des Ben F.
Nochmal Augen, nochmal stechende. Der junge Ben Foster gehört zu den Ausnahmeerscheinungen im gegenwärtigen Hollywoodkino. Auch noch ödeste Filme belebt er mit seiner fiebrigen, nervösen, getriebenen Präsenz. Wer so etwas Outrieren schimpft, muss zur Strafe am Grab von Klaus Kinski knien. Vom Irakkriegsstreifen "The Messenger" (USA 2009) erzählt man sich, dass der Hauptdarsteller Foster, in seiner Rolle als Überbringer von Todesmeldungen an Soldateneltern, so zwingend wie nie spielen soll.
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Zombies wie du und ich
Apropos senile alte Männer. Bei George A. Romero hatte ich ja auch schon die Hoffnung aufgegeben. Mit seiner genialen Zombie-Trilogie, vor allem "Dawn Of The Dead", dem besten Horrorfilm ever, vermählte der US-Regisseur Blut und Pop, Beuschel und Politik. In seinen späteren Zombie-Streifen wirkt Romero dagegen leider wie ein sentimentaler 68er, der die Welt nicht mehr versteht. Nun hört man von "Survival of the Dead" (USA/Kanada 2009) wieder Wunderdinge. Lieber George, eine Chance gebe ich dir noch.
Viennale
Gott Zilla und Co.
Sorry, aber Japaner, die in Gummianzügen über Pappendeckel-Hochhäuser stampfen, sind mir wichtiger als das Gesamtwerk von Eisenstein und Godard. Inzwischen wissen auch die Japaner selbst, welche lebensbejahende Popkunst ihnen mit all den Filmen rund um Godzilla, Mothra und Gamera gelungen ist. "Girara no gyakushu: Toya-ko samitto kiki ippatsu" (Japan 2008) ist eine liebenswürdige postmoderne Hommage an die Ära der Monstermovies made in Nippon.
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Verbrechen zahlt sich aus
Jacques Audiards "De battre mon coeur s'est arrêté" hat mir die Viennale 2005 gerettet. Keinem anderen Film fühlte ich mich damals näher und wesensverwandter als diesem Stück Speed-Kino über einen gehetzten Kleinkriminellen. Audiards heuriger Viennale-Beitrag, das Gefängnisdrama "Un prophète" (F/I 2009), polarisierte heftig in Cannes die Kritiker, aber das ist ja schon einmal was Positives. Ich bin gespannt.
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Abenteuer nach Schulschluss
Die School of Judd Apatow, das ist die Schule, aus der viele der großartigsten Beiträge zum amerikanischen Gegenwartskino kommen. Mit "Superbad" erwies sich der Regisseur Greg Mottola nicht gerade als essentiellster, aber doch gelehriger Schüler. Ganz ohne Apatow-Stempel und Witzquote kommt sein Coming-Of-Age-Film "Adventureland" (USA 2008) aus. Dafür hat die Geschichte um einen Highschool-Loser, der in einem Vergnügungspark jobbt, den famosen Jesse Eisenberg ("The Squid & The Whale") und die noch famosere Kristen Stewart zu bieten.
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Der Heilige des Underground
Der 1994 verstorbene Timothy Carey gilt als einer der ganz großen unterschätzten Exzentriker im B-Movie-Bereich. Ein glorreicher Freak, ein Ur-Beatnik, ein manischer Filmemacher und Schauspieler, der auch in Streifen von Kubrick und Cassavetes mitwirkte. "The World's Greatest Sinner" (USA 1962) ist Careys Opus Magnum, untermalt von Frank Zappa. In der Doku "Making Sinner" (USA 2009) nähert sich Sohn Romeo dem berüchtigten Papa Timothy.
Der Rock und der Roll
Okay, Robert Plant, The Edge und Jack White in einer Doku über die Bedeutung der E-Gitarre sprechen zu lassen und ihnen beim gemeinsamen Spielen zuzusehen, das mag für Postpunks, Technoanhänger und Popfans sterbenslangweilig klingen. Und im Prinzip sympathisiere ich ja auch eher mit diesen drei Fraktionen als mit "Fachblatt"-Lesern und Klampfenfetischisten. Aber weil mich Rock'n'Roll mehr interessiert als, sagen wir, Fußball, Kochrezepte oder Autotestberichte, freue ich mich auf "It Might Get Loud" (USA 2008) von Regisseur Davis Guggenheim.
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Der Neue von den Coen Brüdern
"A Serious Man" (USA 2009) ist wahrscheinlich schon jetzt dreifach ausverkauft. Und angeblich dreimal so gut wie der vernachlässigbare Vorgängerstreifen "Burn After Reading", weil a) mit gänzlich unbekannten Gesichtern besetzt und b) frei von den üblichen skurrilen Einlagen für die Fangemeinde. Count me in.
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Sex und Ökonomie
Ich habe, ganz ehrlich, noch immer keinen Film mit Sasha Grey gesehen. Aber schon zwei Personen, beide Männer, haben mir von dieser Dame als wichtige Schauspielerin vorgeschwärmt. Sasha Grey macht Pornos, da geht nichts unter Anal-Gangbangs, aber sie sieht sich angeblich als Beinahe-Postfeministin und hält sich als Hobby eine Industrialband. Steven Soderbergh, für Meisterwerke und Flops gleichermaßen bekannt, schnallte sich wieder einmal selber die Kamera um und folgt der schönen Sasha als Edelprostituierte durch das New Yorker Nachtleben. "The Girlfriend Experience" (USA 2009) ist ein Pflichtfilm für Voyeure wie dich und mich.
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10 Bonus-Momente
Die Viennale auf FM4
- Tauschrausch Unsere hauseigene Viennale-Tickettauschbörse
- 15 Viennale Momente Ans Herz gelegt von Christian Fuchs
- Blutsfreundschaft Die Werbekampagne für einen Kinofilm erhitzt Gemüter
- Vlog #0 Markus Keuschnigg empfiehlt zehn Weltverbesserungsfilme
- Vlog #1 Hans Hurch reimt sich die Viennale-Eröffnung herbei und zeigt "La Pivellina"
- FM4 Soul Powered Die Party zur Viennale
- Alle Stories zum Thema
L'Enfer d'Henri-Georges Clouzot (F 2009): Einer der legendärsten Filmemacher Frankreichs und sein unvollendetes Werk "Inferno" im Close-up. Dunkelheit, Zigarettenrauch, Romy Schneider.
When You're Strange: A Film about The Doors (USA 2009): Rares Filmmaterial, Anekdoten, alte Lügen, neue Wahrheiten, Johnny Depp als Erzähler. Ich schaue Jim Morrison, dem großen Gockel, lieber zu als den meisten seiner Rock-Zeitgenossen.
Villalobos (D 2009): Mein Minimal-Coming-Out hatte ich nie, wahrscheinlich, weil ich lustige Zuckerl nicht mag und mir das alles auch viel zu spät ist. Romuald Karmakars strenger Blick auf den Berliner Technowizard Ricardo V. reizt mich trotzdem.
Fish Tank (R: Andrea Arnold, GB 2009): Rabiate, außenseiterische, alles andere als pflegeleichte Frauen sind ein heimliches Viennale-Schlüsselthema heuer. Gut so. Hier ist die Protagonistin erst 15 und schlägt sich im Arbeitermilieu von Essex herum. Angeblich der beste britische Film 2009, sagen Eingeweihte.
Whatever Works (R: Woody Allen, USA 2009): Ein alter jüdischer Intellektueller hasst sich und die Welt, liebt aber junge Frauen. Das prototypische Woody Allen-Thema, besonders witzig aufbereitet, weil Larry "Curb Your Enthusiasm" David sich selbst und Mr. Allen zitiert.
Gigante (R: Adrian Biniez, Uruguay/D/Argentien 2009): Ein schüchterner Heavy Metal-Fan und Security Guard verknallt sich in eine Putzfrau. Eine schrullige und höchst charmante Romanze, so erzählt man.
Splinter (R: Toby Wilkins, USA 2008): Ein Body Horror-Schocker über einen verheerenden Virus, der mit John Carpenters "The Thing" verglichen wird. Eines der wenigen plakativen und sinnentleerten Genremovies auf dieser Viennale und somit eine Rarität.
Blutsfreundschaft (R: Peter Kern, A 2009): Ein junger Neonazi und ein alter Herr verlieben sich. Homosexualität und Homophobie, Schuld und Sühne. Vor allem aber: Helmut Berger ist wieder auf der Leinwand zu sehen. Und beehrt die Vorführung.
RIP: A Remix Manifesto (R: Brett Gaylor, Kanada 2008): Meine Wenigkeit gehört ja zu den bösen Vertretern von Copyright und Gesetz, dieser Film kämpft für Creative Commons und den Kampf gegen der Urheberschutz. Jedenfalls eine Viennale-Doku zu einem Thema der Stunde.
Beeswax (R: Andrew Bujalski, USA 2009): Slackermovies nannte man lange die Art von Indie-Filmen, in denen junge Ami-Lebenskünstler stundenlang schwafeln und ins Leere driften. "Mumblecore" heißt die aktuelle Variante. Könnte okay sein oder auch schwer nerven.