Erstellt am: 28. 7. 2016 - 19:03 Uhr
Zwanzig Quadratkilometer Leben
Samuelle Pucillo schlürft seine Spaghetti. Ob sein Vater jemals speiben musste, wenn er mit dem Boot draußen am Meer war, will der Zwölfährige wissen. Es ist nicht gerade das appetitlichste Thema bei Tisch in diesem Fischerhaushalt auf Lampedusa. Aber der Papa bleibt ruhig. Ihm werde schnell schlecht, spricht der Bub weiter. Auf der See oder am Meer zu sein, würde für ihn schon dasselbe werden. Statt Steinschleudern zu basteln, solle der Bub öfter zum Ruderboot schauen. Das würde seinen Magen an das Meer gewöhnen.
"Seefeuer" läuft am 29. Juli 2016 in den österreichischen Kinos an
Es dreht einem nicht den Magen um, wenn ein Arzt in der darauffolgenden Szene in "Seefeuer" - oder "Fuocoammare", wie der Film im Original heißt - Fotos von überfüllten Booten und Leichnamen anschaut. Lampedusa ist nur zwanzig Quadratkilometer groß, für die Geflüchteten bedeutet sie Zukunft und Leben, für die InselbewohnerInnen ist es das Zuhause. "Seefeuer" ist ein überraschend leiser Film, der weitgehend auf "graphic footage" verzichtet. Der Lärm des Funknotrufs und der Schiffsmotoren ist ein starker Kontrast zum Alltag der InselbewohnerInnen. Der Arzt wird von den Menschen im Schlaf und in Gedanken verfolgt. Die Großmutter des Buben Samuelle kommentiert die Radiomeldungen der Bootsunglücke mit "Arme Seelen". "Gott hab' sie selig", drängt sich auf, doch sie spricht es nicht aus.
Doc & Film International
Lampedusa liegt im Mittelmeer zwischen Sizilien und Tunesien und ist seit Jahren einer der bekanntesten Schauplätze, wenn es um das Thema Flucht und Migration nach Europa geht. Ein Dutzend Bücher beschreiben die Geschichte der Insel und das Leben der Einheimischen, Filme wie "Lampedusa im Winter" zeigen die BewohnerInnen als ProtagonistInnen in der Flüchtlingsthematik. Was kann uns der Filmemacher Gianfranco Rosi Neues berichten?
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"Für mich war es an der Zeit, hier die Perspektive zu wechseln und einen anderen narrativen Zugang zu finden", erklärt Gianfranco Rosi im Interview mit Radio Ö1. Hart gesagt wird die Doku allen, die sich mit Lampedusa beschäftigt haben, keine neuen Informationen liefern. Es gibt keine Off-Stimme, keinen kommentierenden Protagonisten und somit reichlich Platz für eigene Gedanken. Der Regisseur Gianfranco Rosi macht es seinem Publikum sehr leicht, sich mit dem Schicksal der Menschen zu konfrontieren, seine Beobachtungen bleiben distanziert. Erst in den letzten Minuten steigert sich die Intensität des Films, die Kamera zeigt die Gesichter Einzelner und gibt dann doch wieder den Blick auf das offene Meer frei. "Vierzig Tote!", ruft ein Mann von einem Rettungsboot. Sterbende hyperventilieren, Speedboote werden an Bord gezogen. In diesen Sekunden wird die Welt einem zu viel.
Es wird Tag und es wird Nacht auf der Insel. Leben und Sterben sind zwei Welten und "Fuocoammare" zeigt letztendlich beide in pietätvoller Weise.