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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

16. 7. 2013 - 13:30

Keine Robinsonade

Letzte Woche war der Papst auf Lampedusa, doch was weiß man schon über die kleine Insel im Mittelmeer?

"Wie geht es Ihnen?", frage ich. Sie antwortete: "Wir sind immer noch mitten im Meer."

Letzte Woche landete Papst Franziskus auf Lampedusa. Die Polizeipräsenz muss noch stärker gewesen sein als ohnehin. Denkt man, wenn man das Buch des jungen Ethnologen Gilles Reckinger gelesen hat. Auch er kannte die Insel nur aus den Schlagzeilen und wollte wissen: Wie lebt es sich eigentlich auf Lampedusa?

Zehntausende Menschen, vor allem aus Afrika, sind seit den frühen Neunziger Jahren auf Lampedusa gestrandet. Diese kleine, 20 km² große Insel ist Sinnbild für den Rand Europas und die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union.

Buchcover zeigt Inselstraße mit vielen Autos und Himmel

Peter Hammer Verlag

"Lampedusa - Begegnungen am Rande Europas" von Gilles Reckinger ist 2013 in der Edition Trickster im Peter Hammer Verlag erschienen.

Dabei wird Lampedusa bewusst zur Flüchtlingsinsel gemacht. "Denn auch die weiter nördlich gelegene Insel Pantelleria böte sich für Bootslandungen an, doch hier haben wohlhabende Prominente Anwesen gekauft. Nicht zuletzt, um den Jetset in Pantelleria nicht zu stören, fährt die Exekutive den Booten entgegen und schleppt sie nach Lampedusa", schreibt Gilles Reckinger in seinem Buch "Lampedusa - Begegnungen am Rande Europas". Es ist der erste von vielen Aha-so-ist-das-Momenten beim Lesen der unterhaltend, fast im Plauderton geschriebenen 228 Seiten.

Der Kulturanthropologe und Ethnologe Gilles Reckinger unternahm in den vergangenen Jahren viele Forschungsreisen auf die Insel. Wie gehen die EinwohnerInnen der Insel mit den Flüchtlingen um und ist das eine rassistische Gesellschaft? Und wie ist das eigentlich, wenn ein Boot in Lampedusa ankommt?

"Dazu muss man wissen, dass man in Lampedusa selten einen Flüchtling zu Gesicht bekommt, weil der militärische Apparat sehr schnell interveniert", sagt Gilles Reckinger im Gespräch. Geändert habe sich das 2011, als der Arabische Frühling begann: Binnen weniger Tage kamen tausende Menschen aus Tunesien in Lampedusa an. Um Spannungen vorzubeugen, öffnete man das Lager, um den Menschen Freigang auf der Insel zu gewähren.

Lampedusa

ANSA/Ciro Fusco

Vor einer Woche auf der Insel

2009 landet Gilles Reckinger erstmals mit einem Flugzeug in Lampedusa - und mit ihm mehrere Dutzend italienische Polizisten. Die Polizeipräsenz ist das erste, das in Lampedusa auffällt. In den Wintermonaten wohnen Polizisten auf Frontex-Einsatz in jenen Hotels, in denen im Sommer TouristInnen urlauben.

Der Unterschied zwischen den Touristen und den Migranten ist nicht erheblich in der Wahrnehmung der Menschen in Lampedusa, hat Reckinger festgestellt. "Die einen bringen wohl Devisen auf die Insel, aber die anderen sind Schiffbrüchige. Und Schiffbruch ist etwas, das jede Inselgemeinschaft kennt. Und es gibt ein sehr direktes Verständnis, dass man Menschen, die in Seenot sind, helfen muss."

Nach Sizilien sind es gut 200 Kilometer, nach Tunesien 110 und die libysche Küste ist 300 Kilometer entfernt. Die Lebensbedingungen der einheimischen Bevölkerung in Lampedusa - wie das gleichnamige Dorf heißt - sind schlecht. Die Fischerei liegt darnieder, seit internationale Konzerne vor der Insel mit ihren Fish-Drownern unterwegs sind. Dagegen kann die kleine, lokale Fischerei nicht bestehen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, vor allem in den Wintermonaten, wenn nur zwanzig Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung Arbeit haben. Den Menschen wird nicht bloß langweilig, Lethargie nimmt überhand. Der Alltag ist eintönig. Und die Menschen freuen sich, wenn man mit ihnen Kontakt aufnimmt.

How to get around

"Die lampedusani gehen nicht zu Fuß. Zu jeder Zeit ist im Dorf unvorstellbar viel Verkehr.", schreibt Gilles Reckinger in seinem Buch. Tatsächlich fielen seine Frau und er bereits in den ersten Tagen ihres ersten Aufenthalts durch bloßes Zu-Fuß-Gehen den Einheimischen auf. Autostopp ist mittlerweile ein bewährtes Mittel, um von A nach B und schnell ins Gespräch zu kommen.

"Ein Fischer hat mir gesagt: Wir sind wie die Ameisen, wir müssen im Sommer sehr fleißig sein, denn in den Wintermonaten haben wir keine Gelegenheit dazu", erzählt Reckinger. In den Sommermonaten lebt Lampedusa auf. Bis zu 11.000 TouristInnen, vor allem aus Norditalien, kommen für Badeurlaube auf die Insel.

Lampedusa und wie geht es weiter?
Aktuell arbeitet Gilles Reckinger mit und zu jenen Flüchtlingen, die nicht abgeschoben wurden, sondern in Süditalien auf Obstplantagen unter Sklaven ähnlichen Umständen arbeiten und um das Überleben kämpfen.

"Wenn man nicht will, muss man in Lampedusa mit Flüchtlingen nicht in Kontakt kommen. Sowieso nicht. Aber man muss auch ihre Spuren nicht unbedingt sehen, denn man tut in Lampedusa viel dafür, dass diese Migration unsichtbar gehalten wird", sagt Reckinger. Mittelbar bringen auch die Bootsflüchtlinge Geld und Arbeitsplätze: Durch die permanent auf der Insel stationierte Polizei und das Flüchtlingszentrum.

Wenn ein Boot ankommt, wird es meist von der Finanzpolizei oder von der Küstenwache in den Hafen geleitet. Dort schirmt eine hohe Mauer das Geschehen ab. Danach werden die Menschen ganz schnell mit Bussen in das Flüchtlingslager transferiert. Später werden die Menschen mit dem Flugzeug oder der Fähre nach Sizilien oder auf das Festland gebracht oder vom Flughafen aus abgeschoben. Das bekäme man nicht automatisch mit, erzählt Gilles Reckinger.

Reiseführer und Geschichtenbuch in einem

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Lange und genau hat sich Gilles Reckinger in Lampedusa umgesehen und die Insel erkundet. Und er erzählt von einer Dorfgemeinschaft, die aus vielerlei Gründen am Rande lebt.

"In den Wintermonaten bleibt die Fähre oft aus. Und dann fehlt es in Lampedusa am Nötigsten: Lampedusa hat keine eigenen Süßwasservorkommen, das heißt, das Trinkwasser muss importiert werden. Ebenso so gut wie alle Lebensmittel", erzählt er. Außerdem ist in Lampedusa die medizinische Versorgung zwar nicht inexistent, doch unzureichend. "Auf dieser Insel leben 5500 Menschen und es gibt trotzdem kein Krankenhaus." Es gibt einen Ärztenotdienst, der rund um die Uhr besetzt ist. Aber FachärztInnen fliegen aus Palermo ein. Tauchen gesundheitliche Probleme auf, fehlen oftmals die richtigen Personen.

"Lampedusa - Begegnungen am Rande Europas" verzichtet auf hinzugefügtes Drama und Übertreibung und ist nicht zuletzt deshalb voll eindrucksvoller Geschichten. Von migrierenden Walen und Schildkröten im Meer zu den toten Menschen am Festland und dem Friedhof, der von den bei oder in den Tagen nach ihrer Überfahrt verstorbenen Flüchtlingen zeugt - Lampedusa hatte man wohl nicht als Reiseziel im Auge. Doch aus der Ferne lässt es sich mit diesem Buch tatsächlich erforschen.