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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

14. 2. 2016 - 15:16

Antiheld mit Sprechdurchfall

Der eine hat den Film nicht gesehen, der andere kennt die Comics nicht: Doc Nachtstrom und Herr Fuchs unterhalten sich trotzdem über "Deadpool".

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Christian: Okay, ich gebe zu, schon wieder einmal kenne ich die Vorlage eines Films nicht. Aber während ich beispielsweise bei Harry-Potter-Adaptionen, Young-Adult-Bestsellern oder sadomasochistischer Hausfrauen-Erotik gerne auf das Leseerlebnis verzichte, ist es mir in diesem Fall fast ein bisserl peinlich. Denn die Comics rund um "Deadpool" zu goutieren, gehört anscheinend absolut zum guten Geek-Ton. Was macht denn diesen Antihelden mit Sprechdurchfall in der Printversion für so viele Fans anziehend?

Doc: Deadpool, der Merc with a Mouth, ist eine bei uns recht missverstandene Figur aus dem unerschöpflichen Marvel-Universum. Bei jüngeren Generationen sind seine Comics wohl recht beliebt, weil der Text des US-Originals in deutsche Umgangssprache übersetzt wird, inklusive deftigen Kraftausdrücken.

Christian: Aber fluchen tut der (un-)gute Mann im Original doch sicher auch wie wild?

Doc: Der einstmalige Krebspatient Wade Wilson, der durch sinistre Geheimexperimente der amerikanischen Regierung einerseits zu einem unansehbaren Freak wird, andererseits aber zu einer Art Supersoldaten mit geradezu magischen Selbstheilungskräften mutiert, ist natürlich auch im Original ein maskierter Redneck mit entsprechend derbem Humor. Was aber in der deutschen Übersetzung und in all der miteinhergehenden Simplifizierung verloren geht, ist eine philosophische Dimension, welche die Originalcomics besitzen, auch wenn man das hier schwer glauben mag.

Deadpool

Marvel

Surreale, multidimensionale Territorien

Christian: Bevor ich mich zum Film äußere, erzähl mir doch mehr über diese philosophische Dimension und was dich persönlich an den Comics fasziniert.

Doc: Es sind wirklich ganz schwer einzuordnende Geschichten, die man auch nur sehr schwer wiedergeben kann. Ich probiers mal anhand eines Fallbeispiels - erst kürzlich las ich zum Beispiel den "Deadpool vs. Cable"-Run: Deadpool wird von einer Sekte angeheuert, einen tödlichen Virus zu stehlen, der die Körper der Infizierten noch dazu blau einfärbt. Beim Versuch, in ein High-Tech-Labor einzubrechen, trifft Deadpool auf Cable, einen nahezu übermenschlichen Superhelden, der seine Kräfte allerdings nur mehr zum Wohl der Menschheit einsetzen will. Ab dem Aufeinandertreffen der beiden Antihelden wird die Story dann endgültig bizarr; kurz gesagt "absorbiert" Cable Deadpool, setzt ihn und sich selbst neu zusammen und macht sich mit der nun gemeinsamen DNA daran, die gesamte Welt rosa einzufärben. Außerdem geriert er sich auch als unbesiegbarer Weltenretter, repariert quasi nebenbei eine Raumstation und erlernt die Technik der Teleportation, die allerdings nun auch Deadpool beherrscht. Und so weiter und so fort.

Christian: Wow, mir schwirrt der Kopf.

Doc: Du siehst also, die Geschichten um Deadpool wurden in den vergangenen Jahren einfach immer irrer - die simplen, seltsamen Possen der Anfänge wichen megakomplexen Storylines, die einerseits in den surrealen, multidimensionalen Territorien eines Grant Morrison wildern, andererseits durch entgrenzte, gleichzeitig aber sehr lakonisch wirkende Brutalität für Aufmerksamkeit sorgen. Das hat zu einer überschaubaren, aber sehr loyalen Fanbase geführt. Die Comics erinnern mich außerdem stellenweise an Garth Ennis’ "Preacher" ebenso wie an den unerbittlichen "Punisher".

Christian: Da drückst du lauter Knöpfe bei mir, mit dem Preacher Jesse Custer und seinen durchgeknallten Freunden hat mich innige Liebe verbunden, für den Punisher hatte ich ja in all seiner Verblendetheit auch immer ein Herz.

Doc: In den Comics wird ja auch Deadpool als Teamup in einer eigenen Miniserie mit dem an Frankensteins Monster angelehnten, grob zusammengenähten Punisher als "Franken-Castle" zusammengespannt. Die endgültige Irrwitzigkeit eines Deadpool wurde aber mit einer Trilogie erreicht, in welcher der verrückte Söldner zuerst das gesamte Marvel-Universum auslöscht und am Schluss sich selbst. Seiner munteren Auferstehung für weitere irrlichternde Abenteuer hat das natürlich aber keinen Abbruch getan.

Deadpool

Marvel

Ach-so-cleverer Zynismus

Christian: Du hast mich jetzt angefixt, lieber Doc. Interessant, dass ich als jemand, der nur die Oldschool-Comics dieses Imperiums kennt, Marvel ja nie mit heftiger Härte in Zusammenhang gebracht hätte, Punisher hin oder her.

Doc: Stimmt, noch immer gilt Marvel im Gegensatz zum Konkurrenten DC als kindlichere Version eines Comic-Multiversums. Wenn bei Marvel aber mal die Entgrenztheit Einzug hält, wie zum Beispiel bei dem eigens dafür geschaffenen MAX-Imprint, dann reicht die Etikettierung "R-Rated" nicht mehr aus, um die gezeigte Härte zu klassifizieren. Die Deadpool-Comics befinden sich da an einem einzigartigen Schnittpunkt zwischen bekifftem Humor und heftigen Gewaltausbrüchen. Das allerdings ist wie eingangs erwähnt eine Position, die im deutschsprachigen Raum unbekannt ist, da die deutschen Übersetzungen der diversen Serien ein vollkommen anderes Bild vermitteln.

Christian: Um jetzt zum Film zu kommen, den du ja noch nicht gesehen hast - der bemüht sich schon um diese Heftigkeit und trägt auch als erste Marvel-Verfilmung ein stolzes "R-Rated"-Zertifikat. Das alles macht "Deadpool" aber leider noch nicht zum guten Film.

Doc: Was hat dich denn so gestört daran?

Christian: Da ich eben die Vorlage nicht kenne, ist "Kick-Ass" meine zentrale Referenz im Bereich der filmischen Superhelden-Dekonstruktion, der lässige erste Teil halt. Und "Kick-Ass" lebt von einer perversen Ambivalenz aus rabenschwarzem Humor und Blutbädern einerseits, auf der anderen Seite nimmt der Film aber sein krankes Personal doch ernst. Sogar die ansatzweise inzestiöse Verbindung zwischen Hitgirl und Big Daddy, der Killertochter mit dem Killerpapa, verströmt echtes emotionales Pathos. "Deadpool" nimmt sich aber vom ach-so-cleveren Vorspann an niemals ernst. Die Hauptfigur lacht, wie der ganze Film, zynisch über das Medium und sich selbst. Und das sorgt stellenweise für amüsante Momente, nervt aber auf ganzer Strecke sehr.

Deadpool

Centfox

Geschwätziges Sterben

Doc: Leidet der Film nicht auch unter einem flachen Darsteller wie Ryan Reynolds? Mit Schaudern denke ich an seinen "Green Lantern"-Flop.

Christian: Reynolds bemüht sich ja jetzt mit gewagteren Rollen um eine Transformation, wie sie McMatthew McConaughey oder Colin Farrell erfolgreich gelungen ist. Aber seine Angestrengheit, sein Image mit "Deadpool" nun in Richtung edgy zu verschieben, wirkt einfach nur schrecklich verkrampft. Es wimmelt ja vor Ryan-Reynolds-Anspielungen in dem Film, das Grüne-Laterne-Desaster bekommt ebenso sein Fett ab wie sein erster weichgespülter Deadpool-Auftritt im "Wolverine"-Film. Aber dieses Dickicht von Metaebenen, in dem auch Marvel, DC und die X-Men vorkommen, ist sehr tollpatschig in einem Film verpackt, der nichts von der sprühenden Intelligenz hat, die etwa Joss Whedons blutiges Metaebenen-Meisterwerk "Cabin In The Woods" so toll macht.

Doc: Das klingt jetzt alles wirklich nicht so gut.

Christian: Hinzu kommt das, was ich mein Bertold-Brecht-Problem nenne. Schon während meines Theaterwissenschaftsstudiums hasste ich den Bruch mit der vierten Wand, die bewusste Zerstörung der Illusion. Ich gehe doch ins Theater und erst recht ins Kino, um davon regelrecht verschluckt und freiwillig manipuliert zu werden. Um in eine andere Realität zu gelangen, die unsere Realität künstlerisch kommentiert. Ich will aber kein Kunsterlebnis, das sich selbst ständig als fauler Zauber enttarnt. Und wenn in einem Film eine Figur direkt in die Kamera spricht, wie es der ohnehin unentwegt plappernde Deadpool tut, dann muss dieses Stilmittel ungemein geschickt eingesetzt sein. Martin Scorsese kann das, Woody Allen kann das, der "Deadpool"-Debütregisseur Tim Miller kann es nicht.

Doc: Wobei ich fairerweise dazu sagen muss, dass Deadpool auch in seinen Comicabenteuern ständig die vierte Wand durchbricht und sich an den Leser wendet; oftmals ist das sehr humorvoll, weil die anderen Protagonisten in den Comics dadurch verwirrt sind, und Deadpool wiederum denen erklären muss, was eine "vierte Wand" ist. Du siehst schon, die Comics sind gespickt mit Meta-Referenzen, über die man stellenweise wirklich ausführlich nachdenken muss.

Christian: Beim Film musste ich definitiv nicht viel nachdenken, milde ausgedrückt.

Deadpool

Centfox

Die Leere hinter dem Ironie-Sperrfeuer

Doc: Denkbar wäre, dass man das Publikum nicht überfordern wollte, oder dass Regisseur und Produzent die Vielschichtigkeit der Vorlage nicht richtig verstanden haben. Besonders bitter erscheint mir, dass Ryan Reynolds ja wirklich fast ein Jahrzehnt dafür gekämpft hat, um "seinen" Lieblingshelden ins Kino zu bringen.

Christian: Ich glaube, dass ist gar nicht bitter für ihn, denn "Deadpool" führt gerade die US-Kinocharts an. Und ich muss fairerweise sagen, ich war auch in einer komplett ausverkauften Vorstellung und das sehr junge Publikum hat bei jedem finsteren Scherz, jedem Splattermoment und vor allem bei jeder Sexpointe begeistert gegröhlt.

Doc: Ach, die Wallungen der Pubertät oder, wenn die männlichen Zuseher schon älter sind, der nicht bewältigten Pubertät. Gröhlendes Publikum ist mir ein Greuel, damit will und kann ich mich einfach nicht identifizieren. Nicht dass ich jetzt prüde sein will, aber das scheint mir alles recht unsympathisch zu sein.

Christian: Ich gebe zu, dass es mir als Superheldenfan, Horrorliebhaber und auch sexuell recht abgebrühtem Zeitgenossen einen kleinen kulturpessimistischen Hieb verpasste. Denn hinter all dem digitalen Blut, dem Zynismus und dem aufgesexten Ironie-Sperrfeuer steckt eine ungeheure Leere. Während die besten Genre-Parodien in aller Dunkelheit und Verzerrtheit, siehe eben "Kick-Ass" oder auch "Kingsmen", immer die Liebe zum Genre spiegeln, ist "Deadpool" ein neunmalkluges Genre-Kino, dass sich selbst verachtet.