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Thomas Abeltshauser

Filmjournalist. Berichtet von Filmfestspielen, unter anderem Cannes oder Venedig.

22. 5. 2015 - 17:16

Von Liebe und Schlaf

Erschöpftes Ende mit ungewissem Ausgang: Die Internationalen Filmfestspiele von Cannes in der Zielgeraden.

Cannes 2015 auf fm4.orf.at

  • Frauenpower in Cannes: Frauen dürfen jetzt auch beim wichtigsten Filmfest der Welt mehr als nur auf dem Roten Teppich gut aussehen (15.5.)
  • Halbzeit in Cannes!: Noch gibt es keinen klaren Favoriten auf die Goldene Palme, aber bei zwei Filmen herrscht nahezu Einigkeit: alle lieben Todd Haynes "Carol" und Gus van Sant sorgt für Buhrufe (19.5.)
  • Von Liebe und Schlaf: Erschöpftes Ende mit ungewissem Ausgang: Die Internationalen Filmfestspiele von Cannes in der Zielgeraden (22.5.)
  • Alles in allem ein guter Jahrgang: Viele Überraschungen bei der Preisvergabe der Internationalen Filmfestspiele von Cannes (26.5.)

Das Festival geht dem Ende entgegen und die Gänge und Stände des Filmmarkts im unübersichtlichen Keller des Festivalpalais lichten sich bereits, die meisten Produzenten und Einkäufer sind schon wieder abgereist. Und die ersten Preise sind auch schon vergeben. In der unabhängigen Nebensektion Semaine de la Critique gehen die Auszeichnungen an zwei lateinamerikanische Beiträge, Santiago Mitres Sozialdrama „Paulina“ aus Argentinien und Cesar Acevedos Familiendrama „Land and Shade“ aus Kolumbien. Auf der Abschlussparty Donnerstagnacht in einem der Beachclubs an der Croisette ist die Stimmung entsprechend ausgelassen. Selbst sonst eher reservierte Pressekollegen, die tagsüber noch über den Stress gejammert haben, zeigen mit viel körperlichem Einsatz auf der Tanzfläche ihre Liebe zu James Brown und Daft Punk. Als dann die ersten Töne von Pharell Williams „Happy“ erklingen, drehen alle durch. Wahrscheinlich ist es auch die Freude, den Festivalwahnsinn überlebt zu haben.

Und da war in den letzten Tagen auf der Leinwand einiges zu sehen. Gaspar Noés „Love“ galt mit seinem Penis-Plakat als der programmierte Skandalfilm des Festivals. Tatsächlich gibt es etliche explizite Sexszenen zwischen dem Anfang Zwanzigjährigen Paar und ihrem Techtelmechtel mit einem Mädchen. Noé, der mit „Irréversible“ und vor allem der minutenlangen Vergewaltigungsszene seinen Ruf als Provokateur verewigte, hat diesmal in 3D gedreht, was für das Seherlebnis keinen wirklichen Mehrwert bietet, außer in einer Szene, die den Samenerguss des jungen Mannes dreidimensional in den Kinosaal verlängert. In your face! Und das weit nach Mitternacht, erst gegen 2.30 Uhr morgens entlässt der Abspann die Zuschauer etwas bedröppelt in die Nacht. Bis dahin muss allerlei Selbstreflexives übers Filmemachen und Geschwafel über die Liebe und das Leben. Dass Noés Alter Ego dabei nicht gut wegkommt, sondern als hohles, prätentiöses Früchtchen erscheint, entbehrt nicht einer gewissen Komik.

Screenshot "Love"

Filmfestival Cannes

"Love"

Einen kleinen Aufreger gab es dafür über den Dresscode des Festivals. Mehrmals waren bei Galavorstellungen Frauen abgewiesen worden, weil sie zu ihrer Abendgarderobe flache Schuhe getragen haben. Oh là là! Dabei sind Highheels auf dem Roten Teppich ein Must! Ein Shitstorm brach über das Festival herein, selbst Emily Blunt kritisierte die Regelung öffentlich und Cannes-Leiter Thierrey Frémaux musste richtigstellen: Es gebe kein Gesetz über die Höhe des Schuhwerks. Ganz offensichtlich hatte ein Teil der Einlasser und Sicherheitsleute ein falsches Fashionbriefing. Incroyable! Viel sinnvoller wäre eh ein Verbot, alte Sofabezüge zu Abendkleidern umzunähen. Was so manche Lokalprominenz hier spazieren führt, erinnert doch arg an Polstermöbel aus den Achtzigern.

Ein sehr viel schönerer Anblick war da der neue Paolo Sorrentino. In „Youth“ versammelt er ein Panoptikum skurriler Figuren in einem Nobelhotel in den Schweizer Bergen, wo ein pensionierter Komponist (Michael Caine) mit seiner Tochter (Rachel Weisz) Urlaub macht. Für die Queen soll er ein letztes Mal ein Konzert dirigieren, doch er verweigert sich, sinniert lieber über das Leben und die Zeit, die verrinnt. Sein bester Freund, ein Regisseur (Harvey Keitel) will’s dagegen noch mal wissen und schreibt an einem Film, der sein Testament werden soll. Sorrentino spaltet mal wieder die Kritiker, es gab langen Applaus, aber auch laute Buhrufe. Mir hat dieser melancholisch-komische Reigen in seinem überbordenden Ideenreichtum gefallen, auch wenn er am Ende ein bisschen zu selbstverliebt ist und kein kohärentes Ganzes ergibt.

Screenshot "Youth"

Filmfestival Cannes

"Youth"

„Dheepan“ von Jacques Audiard ist dagegen klassisches Sozialdrama. Es geht um eine Flüchtlingsfamilie aus Sri Lanka, die gar keine Familie ist, denn Mann, Frau und Tochter haben falsche Pässe und kannten sich bis vor ihrer Flucht überhaupt nicht. Nun leben sie in den Banlieuses von Paris in einem Sozialbunker und geraten vom Krieg in ihrer Heimat in den der Banden der Vorstadt. Spannungen gibt es auch innerhalb der vier Wände und beide Schlachtfelder verbindet Audiard souverän. Dass seine Hauptdarsteller Laien sind und zum Teil selbst Fluchterfahrungen hinter sich haben, verleiht dem Film zusätzlichen Realismus, den er mit einem aufgesetzten Happyend dann wieder selbst verrät.

Screenshot "Dheepan"

Filmfestival Cannes

"Dheepan"

Jia Zhang-ke erzählt in „Mountains May Depart“ in drei Teilen von Beziehungen im modernen China, das sich im Umbruch befindet. Die Dreiecksgeschichte einer jungen Frau, die sich zwischen einem Minenarbeiter und einem jungen Geschäftsmann entscheiden muss, ist eine Allegorie auf die Identitätskrise des Landes zwischen Kommunismus und Turbokapitalismus. Er erweitert mit jedem neuen Kapitel auch das Format, beginnend vom 4:3 im Jahr 1999 bis zum Cinemascope der Zukunft 2025 und gibt damit den Figuren immer mehr Raum, der für sie ebenso Freiheit wie Leere bedeutet. Ein frisches, ganz eigenes Kino, auf dessen Symbolismus man sich einlassen muss.

Screenshot "Mountains May Depart"

Filmfestival Cannes

Leere herrscht auch in der amerikanischen Wüste, in die der Franzose Guillaume Nicloux in „The Valley of Love“ Isabelle Huppert und Gérard Depardieu schickt, um den letzten Wunsch des verstorbenen Sohnes zu erfüllen. Der hat sich nach Jahren der Entfremdung das Leben genommen und in zwei Briefen an seine geschiedenen Eltern genau beschrieben, wann sie sich im Death Valley einzufinden haben, wo dann auch er da sein würde. Gemeinsam ziehen sie also los in eine Art „Wenn die Gondeln Trauer tragen“-Roadmovie, in dessen Verlauf die beiden tatsächlich glauben, Kontakt mit ihrem toten Sohn aufzunehmen. Woher sonst sollen die Verbrennungen an der Haut kommen, wenn nicht von der transzendentalen Berührung durch den Sohn? Man muss den ganzen esoterischen Quatsch gar nicht glauben, um trotzdem seine Freude daran zu haben, den beiden französischen Filmdiven zuzusehen. Huppert ist gut wie immer, aber Dépardieu ist ein Spektakel als meist halbnackter schwitzender Koloss.

Screenshot "Valley Of Love"

Filmfestival Cannes

"The Valley Of Love"

Bisweilen scheint ein bisschen willkürlich, welcher Film im Wettbewerb läuft und welcher in einer der Nebenreihen. Einer der schönsten in diesem Jahr dort war „Cemetery of Splendour“ von Apichatpong Weerasethakul. Der Thailänder hatte vor fünf Jahren mit „Oncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben“ die Goldene Palme gewonnen und danach vor allem Videokunst und Installationen gemacht, unter anderem auf der Documenta 2012 in Kassel. Jetzt ist er zurück mit einem melancholischen Zwitter zwischen Traum und Wirklichkeit über ein Hospital, in dem Soldaten mit einer mysteriösen Schlafkrankheit behandelt werden. Auch hier geht es um Erinnerungen und die Geister der Vergangenheit und Weerasethakul ist mit seiner sehr speziellen Weltsicht und den langen Einstellungen natürlich alles andere als Mainstream, aber die lineare Erzählstruktur macht „Cemetary“ zu seinem bislang zugänglichsten Film.

Screenshot von "Cemetary Of Splendour"

Filmfestival Cannes

"Cemetary Of Splendour"

Sonntagabend werden die Preise im Wettbewerb verliehen und so richtig einig über die Favoriten ist sich hier niemand. Viele sehen Todd Haynes „Carol“ vorne, seine lesbische Liebesgeschichte im New York der Fünfziger, wobei ich eher die beiden Hauptdarstellerinnen Cate Blanchett und Rooney Mara auszeichnen würde. Hoch im Rennen ist auch „The Lobster“ von Yorgos Mathimos, dessen absurd-komischer Humor den Jurypräsidenten Ethan und Joel Coen gefallen könnte. Aber auch das ungarische KZ-Drama „Son of Saul“ von László Nemes und Hou Hsia-Hsiens Schwertkampfepos „The Assassin“ hat seine Befürworter. Der Preis für den besten Hauptdarsteller könnte an Michael Caine gehen.

Morgen stehen noch „Macbeth“ und der Abschlussfilm an, die Naturdoku „La glace et le ciel“ des Franzosen Luc Jacquet, letzterer aber auch außer Konkurrenz. Ich mach mich jetzt erst mal fertig fürs Abendessen. Gestern hatte ich völlig unerwartet eine Einladung zu einem formal dinner im Postfach. Zu Ehren von Roger Deakins, dessen Beruf als Kameramann eigentlich nicht adäquat wiedergegeben ist. Das englische „Director of Photography“ wird ihm schon gerechter. Er hat mit Sam Mendes, Martin Scorsese und vor allem seit „Barton Fink“ 1991 regelmäßig mit den Coen-Brüdern gearbeitet. Gut möglich, dass die beiden auch bei dem Dinner auftauchen.