Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Halbzeit in Cannes!"

Thomas Abeltshauser

Filmjournalist. Berichtet von Filmfestspielen, unter anderem Cannes oder Venedig.

19. 5. 2015 - 19:23

Halbzeit in Cannes!

Noch gibt es keinen klaren Favoriten auf die Goldene Palme, aber bei zwei Filmen herrscht nahezu Einigkeit: alle lieben Todd Haynes "Carol" und Gus van Sant sorgt für Buhrufe.

Cannes 2015 auf fm4.orf.at

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Nach der Hälfte des Festivals wird es merklich mühsamer, nach drei, vier Stunden Schlaf frühmorgens aus dem Bett zu kommen für den ersten Wettbewerbsfilm um 8:30 Uhr. Es hilft aber, wenn dann ein Thriller wie "Sicario" von Denis Villeneuve läuft, schlagartig bin ich hellwach. Und verliere trotzdem die Orientierung, wer die Guten und die Bösen sind in diesem Krieg zwischen Drogenkartellen an der US-mexikanischen Grenze. Das ist natürlich genau Villeneuves Absicht, der ein Meister darin ist, eine Atmosphäre der permanenten Bedrohung aufzubauen. Emily Blunt spielt eine FBI-Agentin, die auf eine Mission mit einer Eliteeinheit (Benicio del Toro, Josh Brolin) geschickt wird, deren Motive lange im Dunkeln bleiben. Wie schon "Prisoners" entpuppt sich "Sicario" schließlich als extrem spannende und smart erzählte Rachegeschichte mit komplexen Charakteren.

Filmstill Sicario

Richard Foreman

Sicario

Draußen auf der Croisette drücken sich wie immer vor den Wettbewerbspremieren Hunderte Schaulustige am Roten Teppich vor dem Festivalpalais herum und konkurrieren mit den Fotografen und den gestresst von einem Termin zum nächsten hetzenden Journalisten um den Platz zwischen den Absperrungen. Die Gatter und die dazugehörigen Verkehrspolizisten mit ihren strikten und konsequent auf Französisch gebellten Anweisungen scheinen willkürlich wie eh und je. Aber vielleicht stimmt auch, was ein spanischer Kollege mit sonst eher ruhigem Gemüt in einem Moment der verlorenen Contenance schrie: "Das machen die mit Absicht!!!"

Aber etwas ist doch neu in diesem Bild, und ich brauchte einige Sprints zwischen Kino und einem der diversen Hotels und Beach-Clubs, wo die Interviews stattfinden, um drauf zu kommen. Es sind die Straßenhändler mit ihrem Angebot, das sie je nach Wetterlage hervorzaubern: Sonnenbrillen und Strohhüte bei schönem Wetter und Regenschirme bei schlechtem. Dass die überteuerten Regenschirme bislang fehlen, findet hier bei wolkenlosen 26 Grad keiner schlimm (auch wenn vorgestern eine Kollegin beim Interview mit Natalie Portman in der prallen Sonne fast kollabiert ist). Stattdessen haben die Verkäufer ein neues Produkt im Angebot: den Selfiestick. Ist das Guerillamarketing? Schließlich haben die beiden Cannes-Bosse, Thierry Fremaux und Pierre Lescure, auf der Pressekonferenz im April, als das Programm vorgestellt wurde, sich klar gegen die Selfies auf dem Roten Teppich ausgesprochen. Damit waren sie bisher halbwegs erfolgreich, es fotografieren sich zwar immer noch Journalisten und Promis auf den Stufen zum Palais, aber zumindest halten sie ihre Telefone dabei in der Hand - und lassen sie schnell wieder verschwinden. Die Sticks sehe ich eher im Fanlager, wo sie nicht nur als narzisstische Armverlängerung genutzt werden, sondern auch einfach, um über die Köpfe der anderen hinweg eine bessere Sicht auf die Stars zu haben.

Filmstill aus Mia Madre

SACHER - FANDANGO

Mia Madre

Auf der Leinwand ging es die letzten Tage viel ums Sterben. Nanni Moretti verarbeitet in "Mia Madre" den Tod seiner alten Mutter und liefert in seiner gewohnt tragikomischen Art gleichzeitig eine Hommage ans Kino und das Filmemachen. Sein Alter Ego spielt er allerdings nicht selbst, sondern hat es mit einer Frau als Regisseurin besetzt, die zunehmend damit überfordert ist, sich neben der sterbenden Mutter mit schwierigen Dreharbeiten und Selbstzweifeln auseinandersetzen zu müssen. Die Mischung aus erkennbaren Bezügen zu Morettis Leben und Verfremdungen funktioniert erstaunlich gut.

Filmstill "The Sea Of Trees"

Cannes

The Sea of Trees

Ein ziemlich banales Ärgernis war Gus van Sants "The Sea of Trees", in dem Matthew McConaughey als trauernder Witwer nach Japan fliegt, um sich dort in einem Selbstmörderwald das Leben zu nehmen. Dort trifft er auf einen japanischen Geschäftsmann (Ken Watanabe), der verletzt umherirrt und nicht mehr aus dem Wald findet, nachdem er seine Suizidpläne aufgegeben hat. Die Begegnung lässt den Amerikaner seine schwierige Ehe mit seiner Alkoholikerfrau (Naomi Watts) rekapitulieren, die in konstruiert wirkenden Rückblenden gezeigt wird. Die Verquickung des Ehedramas mit dem spirituellen Survivaltrip durchs Fegefeuer ist weder Fisch noch Fleisch, irgendwo zwischen van Sants experimentellem Kunstkino und seinen Mainstreamfilmen. Die Enttäuschung war auch bei anderen groß. Am Ende der Vorführung wurde der Film lautstark ausgebuht. McConaughey nahm es auf der Pressekonferenz tags darauf gelassen: Jeder habe das Recht zu buhen, wie zu jubeln.

Filmstill aus Carol

Cannes

Carol

Todd Haynes "Carol" dagegen mochte ich sehr, auch wenn er einen mit seiner kühlen Perfektion und Kontrolliertheit auf einer gewissen Distanz hält. Vor allem visuell ist die zarte Liebesgeschichte zwischen der reich, aber unglücklich verheirateten Carol (Cate Blanchett) und einem jungen Shopgirl (Rooney Mara) im New York der Fünfziger herausragend. Haynes und Kameramann Ed Lachman haben auf Super-16-Milimeter gedreht und einen in jeder Einstellung wirklich atemberaubenden Look kreiert. Ein klarer Favorit für die Preise, die am Sonntag vergeben werden, ist noch nicht in Sicht, ich würde bislang zu "Carol" tendieren, aber für die nächsten Tage stehen ja unter anderem noch die neuen Filme von Paolo Sorrentino, Jacques Audiard, Jia Zhang-ke und Hou Hsiao-Hsien an, allesamt Festivallieblinge.

In Cannes regiert das Prinzip der Verknappung. Bei tausenden Journalisten können gar nicht alle in die Vorführung kommen. Es besteht eine permanente Anspannung, ob man es vor dem niederschmetternden "Complet!"-Ruf der Einlasser in den Kinosaal schafft. Viele stellen sich schon zwei Stunden vorher an, vor allem die Kollegen mit den gelben und blauen Badges, die erst warten müssen, bis alle in der Gunst des Festivals höher gestellten an ihnen vorbeigezogen sind. Und oft werden sie dann in letzter Minute doch abgewiesen.

Auch ich bin in diesem Jahr in ein paar Vorstellungen nicht hineingekommen, was mich vor allem bei dem ungarischen KZ-Drama "Saul Fia" geärgert hat. Das Regiedebüt von László Nemes ist eines dieser Werke, das die Kritik spaltet. Einige sehen darin einen Favoriten für die Goldene Palme, andere hassen den Film für die Art, wie er den Holocaust darstellt. Ich hoffe, dass ich mir am letzten Festivaltag in einer Wiederholung selbst noch ein Bild davon machen kann. Und auch den Dokumentarfilm über Amy Winehouse habe ich nicht geschafft, von dem so mancher Kollege hier geschwärmt hat. Cannes ist immer auch ein Festival der verpassten Filme.

Und es ist auch ein Festival für den Nachwuchs, vor allem in den Nebensektionen. Am Sonntag habe ich Patrick Vollrath am Strand getroffen. Er studiert Regie bei Michael Haneke an der Wiener Filmakademie und ist mit seinem Bachelorabschlussfilm "Alles wird gut" in die Sektion Semaine de la Critique eingeladen. Obwohl er im Januar bereits den renommierten Max-Ophüls-Preis in Saarbrücken gewonnen hat, ist er vor der Premiere Dienstagabend aufgeregt. Er erzählt mir, dass es gerade so gut läuft, dass er vor dem Master eine Studienpause einlegt und eigene Stoffe entwickelt, darunter ein Serienkonzept, einen Kinderabenteuerfilm und ein Terrorismusdrama über die Auswirkungen der alltäglichen Bedrohung. Vielleicht ist er demnächst ja wieder in Cannes.