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Susi Ondrušová

Preview / Review

28. 10. 2013 - 15:22

Wie großartig ist Arcade Fires "Reflektor"?

Mit dem Album schwanger gehen. Ein Selbstversuch in 12 Stunden!

FM4 Artist of the Week

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Sonntag 9 Uhr: "Trapped in a prism, in a prism of light"

Guten Morgen. Ich bin zu früh auf aber auch zu spät dran. Arcade Fires neues Album ist das mit der größten Spannung erwartete Werk des Herbstes. Der Level der Geheimhaltung hinter den Label-Kulissen war ein lästiger, ein gut durchgeplanter und ein gescheiter aber natürlich auch gescheiteter, der dazu geführt hat, dass sich Journalisten zu unterschiedlichen Zeitpunkten (für Kollegen Christian Lehner hieß das ein paar Stunden vor dem Interview) und hinter unterschiedlich dicken Bürobeton-Wänden mit "Reflektor" auseinandersetzen durften.

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Während es auf meiner Uhr also 9 Uhr ist und ich verschlafen nun endlich auf Play drücke um mir das erste Mal diese heiligen Files anzuhören, hätte ich schon letzte Woche im Netz fündig werden können, ich hätte gar in einem irischen oder tschechischen Plattengeschäft danach suchen können (auf wundersame Weise ist es dort schon ganze fünf Tage vor Release ausgestellt und zum Verkauf angeboten worden), ich hätte auch letztendlich schon vor dem Wochenende über Arcade Fires offiziellen Youtube Kanal mir die Audiowurst in voller Länge anhören und dazu Sequenzen aus dem 1959er Film "Black Orpheus" anschauen können.

Aber es ist nun Sonntag, 9 Uhr, warum ich schon wach bin, weiß ich nicht, aber der Plan ist, mit dem Album in den nächsten 12 Stunden warm zu werden; mit ihm schwanger werden, wie mit einer Idee, aus der etwas wächst von dem ich noch nicht weiß, was es wird. Vielleicht ein neues Lieblingsalbum, ein oder mehrere neue Ohrwürmer. Zur Verfügung steht mir das Internet als Recherchewaffe. Es sollte ein Sommertag im Herbst werden, das alleine ist schon der perfekte Rahmen sich "Reflektor" hinzugeben. Der Herbst hat sich genauso neu erfunden wie Arcade Fire. Das beweist schon der Titelsong vom Album. Es klingt nach Disco und Lichtschwertern.

Reflektor

Arcade Fire

Sonntag 9.45: "We Exist - Walking around head full of sound acting like we don't exist"

Wäre das Musikabspielgerät auf Shuffle, würde ich mir denken, hier geht gleich eine Billy Jean-Coverversion los. "We Exist" heißt der zweite Track. Ich höre es dreimal, dann steh ich auf. Nein es ist kein Album zum Liegen. Ich telefoniere mal kurz mit der besseren Hälfte und lasse mir von einer Software erzählen, die quasi NSA-Abhör-Sicher ist (irgendwas mit IP Adresse) und meine bessere Hälfte davor beschützen soll "Probleme zu bekommen" mit dem Provider wenn er sich alle Filme dieser Welt auf die Festplatte packt. Ehrgeiziger Plan. Gibt es denn keine Verschlüsselung von Audiodateien mit der Arcade Fire hätten diesem Leak entgehen können? Ich kenn mich zu wenig aus. "We Exist" endet im Fade-Out mit einem flüsternden Win. Ich frage mich ab welchem Song ein Abba-Schwenk passiert und "Reflektor" in die "Sprawl II" Richtung von "Suburbs" abwandert. Moment, vielleicht ist es schon längst soweit und ich hab es nicht bemerkt?

Sonntag 10.12: "Hit me with your flashbulb eyes"

"Flashbulb Eyes" klingt als ob da tatsächlich auf Energiespar-Glühbirnen getrommelt worden wäre. Energiespar nicht weil ich hier eine belehrende Komponente einbringen möchte, sondern weil die stabiler sind. Ich denk an David Bowie und an David Byrne. Man hört immer das, was einem am nächsten ist, das ist die Crux der Musikrezension. Ich warte auf ein Zeichen der zufälligen Bestätigung, dass Arcade Fire gerne Talking Heads oder Tom Tom Club wären und geh zum Bücherregal um David Byrnes "How Music Works" Buch aufzuschlagen. Dann schau ich mir "Here Comes The Night Time" nochmal an.

Sonntag 12.36: "Is anything as strange as a normal person?"

Ich bin zu spät für die Viennale. Ich laufe zur U-Bahn zum finalen Percussiongewitter von "Here Comes The Night Time". Die Türen schließen sich und es kommt das Intro von "Normal Person": "Do you like rocknroll music?", fragt mich eine Stimme im Intro. Ich stelle mir das erste Mal vor, wie das Album live funktionieren wird und bin überzeugt diese Nummer ist der perfekte Soundtrack für Openair-Freakout-Fahnenschwenken-HändeindieHöh-FreundinaufdenSchultern-Momente. Ich höre das erste Mal Blasinstrumente. Kein gutes Album ohne Blasinstrumente, wenn man mich fragt. Danke dafür. "Normal Person" ist also bislang mein Lieblingstrack, ich seh bekannte Gesichter in der U-Bahn und verstecke mich im Eck, weil ich red' heut sicher mit niemandem außer mit dem Internet. Ich poste, dass ich mich auf den Film freue und hör "Normal Person" fünf Mal hintereinander bevor ich in den Kinosaal eintauche, um mir eine Doku über – wie ich glaube – Migration anzuschauen. Warum auch nicht.

Sonntag 15.07: "When your love is bad you don't know why you're so sad."

Es ist schon Nachmittag kurz nach 3 Uhr und ich muss mich wieder beeilen. Ich glaube ja, dass die besten Albummomente gegen Ende auftauchen. Weil quasi ein Album auch wie eine TV-Serie funktionieren kann: Gegen Schluss gibt es Cliffhanger auf das was noch kommen könnte. Oder so viel Neugier und Spannung, dass man nochmal von Anfang beginnt und zu Track Nummer Eins zurückkehrt, weil die Reise so schön war. Ich höre eine Nummer, die sehr klassisch super Arcade Fire ist: "You Already Know"

Arcade Fire

Arcade Fire

Sonntag 16.10: "Joan Of Arc tell the boys I'll follow you!"

Ich versuche rauszufinden, was Owen Pallett da am Album alles mitarrangiert und mitgespielt hat, finde aber keine Linernotes im Internet. Ich schreibe mir auf, dass ich die Plattenfirma anrufen muss und Verlosungsexemplare anfordern muss. Ich hätte gerne drei Stück für drei FM4 Hörerinnen. Track Nummer Sieben "Joan Of Arc" versteh ich ehrlichgesagt nicht, gefällt mir überhaupt nicht. Es würde mich nicht überraschen, wenn das die Lieblingsnummer von Owen Pallett ist. Ich google das kurz, find gottseidank eh keine Bestätigung und überlege mir ein Mixtape zu "Joan Of Arc"-Songs. Find ich als Metapher ja eigentlich langweilig und schau mir OMDs Joan Of Arc an.

Sonntag 16.53: "When you fly away will you hit the ground? It's an awful sound."

Der Film den ich mir angeschaut habe war Ruth Beckmanns "Those Who Go Those Who Stay", ein Film über Migration, über Gehen und Kommen. Bei der anschließenden Frage&Antwortrunde sagt sie, dass es ihr bei ihren dokumentarischen Arbeiten darum geht "selbst überrascht zu werden und selbst zu lernen". Ich mag das, ich schau mir bei der Viennale ausschließlich Dokus an. Alben sind auch Dokumentationen, geben Einblick in einen Bandabschnitt, reflektieren im besten Fall auch eine Zeitströmung, ein Thema, ein Genre. Die Zehner Jahre sind geprägt von Genredurchmischung und Genreübergängen und demnach auch Genrelosigkeit eigentlich. Anything goes. Für Puristen schwer zu greifen. Spätestens seit Radiohead darf man sich dem als Musikfan eh nicht verwehren. Das Leben ist langweilig, wenn man immer wieder dasselbe vom Gleichen erwartet oder abliefert. Das trifft auch auf Arcade Fire zu. Ich hör jetzt "Aweful Sound (Oh Eurydice)".

Eurydike also, jene Figur der griechischen Mythologie, die durch Schlangenbiss starb und der Orpheus in den Hades gefolgt ist und nicht geschafft hat wieder in die Welt zu retten. Sehr kurz zusammengefasst. "Aweful Sound" ist ein in die Irre führender Titel, es wird nach einer langsamen Einführung in das lyrische Thema endlich hymnisch. So ein sich zuspitzender Euphorie-Moment, auch wenn es inhaltlich noch keine Aussicht auf ein Happy End gibt. "I know there's a way we can leave today. Think it over." singt Win und Regine antwortet mit "Never gonna let you down". Ein Abschiedslied. Es gibt eigentlich schon zu viele Lieder auf meiner Begräbnisliste, aber ich muss das noch dazuergänzen.

Sonntag 18: "Just sing for me all night. We'll wait until it's over."

Ich bin mittlerweile in einem anderen Kino und bin den Weg nochmal von Track 1 zu 8 durchmarschiert. Ich bin ja fürwahr nicht der größte Fan von Synthesizern, da ist irgendwas Kaltes was mich daran stört. Ich erinnere mich, wie Will Butler im Interview davon gesprochen hat, sich für Suburbs mit unterschiedlichen elektronischen Maschinen eingedeckt zu haben und ich mir gedacht hab: Jetzt kommen sie, die Pet Shop Boys. So ist das eh nicht, aber es ist mir kalt. Ich les' ein wenig über Orpheus nach, der im Titel "Its never over" verewigt ist und erinnere mich an das schönste Bild, dass sein singender Kopf samt seiner Lyra an den Strand Lesbos gespült wurde. Vielleicht ist damit das "It's never over" gemeint. Ich schau mir mittlerweile Urlaubsfotos von Lesbos an. Mir fehlt ein wenig Kitsch. Ich lese, dass Lou Reed gestorben ist. Telefoniere, telefoniere. Ich frage mich, ob ich mir ein "Collected Lyrics" Buch von Arcade Fire kaufen würde, sollte in den nächsten Dekaden eines erscheinen. Ich weiß es nicht und hör nochmal „Normal Person“. Yes I like Rocknroll Music.

Sonntag 21: "You can cry, I won't go. You can scream, I won't go."

Albumcover von "Reflektor"

Arcade Fire

"Reflektor" von Arcade Fire ist dieser Tage erschienen. ]

Es kristallisieren sich zwei Songs als die Besten raus: "Normal People" und "Porno". Was für ein Wahnsinn. Ein sich wiederholendes und hypnotisierender Beat, der per Tastendruck von einer dieser Maschinenmonster aus dem Instrumentenlager des Technischen Museums kommen könnte. Vielleicht eh dieses Gary Numan-Keyboard, vielleicht aber auch nicht. Man kann sich zu "Porno" gut ins Bett legen. Ich check noch ein bisschen social media, schließ mein Abspielgerät an die Wohnzimmerboxen. Kein Unterschied in meinen Ohren, außer dass ich jetzt den Nachbarshund bellen hör.

"When love is gone. Where did it go? It's just an afterlife"

Programmtipp

Am 31.10. gibt es in der FM4 Homebase ein Arcade Fire Spezial: Christian Lehner im Interview mit Regine Chassange und Jeremy Gara.

Nach "Porno" läuft "Afterlife" als ich von einem Todesfall erfahre von jemandem der keine erfüllten 71 Jahre auf der Welt gehabt hat. "Reflektor" wird also das Album sein, das für mich mit Todesnachrichten verknüpft ist. Ist Selbstmord, wenn man vergisst zu lieben? "Afterlife" könnte wohl davon handeln, dass man nach dem Ende nochmal neuverhandeln möchte. "Can we work it out?" Es wird wieder hymnisch. Chor und alles. Es wird Montag werden, ein neuer Montag mit Arcade Fire. So wie man sie noch nie gehört hat, das muss man ihnen lassen. Zwischen kühl und cool. Melancholie, Sehnsucht, Leidenschaft, all das konnte und kann man noch immer mit Arcade Fire verhandeln.