Erstellt am: 3. 11. 2013 - 17:03 Uhr
Des Kaisers neue Kleider
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Arcade Fire. Schon gehört? Ausnahmsweise soll die Rubrik "Der Song zum Sonntag" als trojanisches Pferd dienen, um auch noch ein paar Worte über die neue Platte von Arcade Fire zu verlieren, über die in der vergangenen Woche schon überall auf der Welt von fast allen fast alles gesagt worden ist. Auch wenn der Song "Here Comes The Night Time" schon einer der besten Songs, wenn nicht gar der beste Song auf "Reflektor" ist.
Oft zitiert ist die Aussage, nach der Brian Enos Produktionsjob für "Achtung Baby" von U2 hauptsächlich darin bestanden hätte, alles zu zerstören oder zu löschen, was zu sehr nach U2 geklungen hätte. Neben dem Album "Remain in Light" von den Talking Heads, das ebenfalls unter der Schirmherrschaft und unter großer Beteiligung von Brian Eno entstanden ist, ist "Achtung Baby" die zweite offensichtliche Verweisgröße von "Reflektor" von Arcade Fire. "Remain in Light" und "Achtung Baby" waren beides Platten, die mithilfe eines Superstarproducers (Eno) das Image ihrer jeweiligen Bands leicht neu definierten und deren Sound teils neu erfanden. Und Platten, die nicht selten als das Opus Magnum im Katalog der jeweiligen Band gelten.
Arcade Fire
"Remain In Light" sollte die Wahrnehmung verändern, die Talking Heads wären bloß David Byrne plus eine etwas austauschbare Backing Band, und die Idee eines Kollektivs herstellen. Man experimentierte – im Jahr 1980 bahnbrechend – mit Samples und Loops und befasste sich eingehend mit der Polyrhythmik afrikanischer Volksmusiken. Immer noch steht "Remain In Light" als unantastbarer Monolith da, der so viel an Sounds und Attitude vorweggenommen hat, was bis heute noch versucht wird zu kopieren, sei es vom Animal Collective, dem LCD Soundsystem, Vampire Weekend, Dubstep- und Post-Dubstep-Produzenten und hunderten schlechten Bands dazwischen.
Mit "Achtung Baby" dokumentierten U2 1991 den Umstand, dass sie mittlerweile auch selbst schon ein wenig genug von sich hatten, von ihrer Ernsthaftigkeit und dem weihevollen Bravado. Auf "Achtung Baby" bemühte man einerseits die Stilmittel von Trash und Ironie – auch wenn Bonos Texte auf dieser Platte besonders introspektiv und dunkel ausfielen – andererseits versuchte man, den miefig gewordenen Rock der Band zu entrümpeln und an der Gegenwart von damals anzudocken: Man orientierte sich an TripHop und elektronischer Musik im allgemeinen, an Industrial Pop und Alternativ Rock. Man verwendete Drum-Machines und allerlei Effekt-Geräte, die Bohrmaschinen-Geräusche und jene Klänge besorgten, die für gewöhnlich entstehen, wenn man eine halbe Tonne Altmetall mit dem Vorschlaghammer bearbeitet. Was für eine tolle Platte "Achtung Baby" doch ist, wenn man ab und zu von der Poesie des Bono absieht, auch heute noch.
Jedoch: Wie viel U2 Brian Eno seinerzeit damals tatsächlich gelöscht hat, ist nicht bekannt. Was jedoch übrig geblieben ist, klang damals schon immer noch eindeutig nicht bloß nach, sondern wie U2. All die schönen neuen Sounds und die Studiotüfteleien waren bloß schmückendes Beiwerk und neue Politur, am traditionellen U2-haften Songwriting war kaum etwas verändert worden. Muss auch nicht immer sein.
(Wäre dieses Stück Musik - abgesehen vom Gesang - auf "Reflektor" fehl am Platz?)
Der Brian Eno von "Reflektor" ist jetzt klarerweise James Murphy. Wenn es einen Eno-Jünger gibt, dann ist es Murphy. Das Werk des LCD Soundsystems baut zu weiten Teilen auf Enos weit verzweigtem Schaffen auf: Auf Roxy-Music-Eno, auf Enos frühen Solo-Pop-Platten, auf David Bowie in seiner Berlin/Eno-Phase, auf John Cale mit Eno, Eno mit den Talking Heads und auf störrischem New Yorker No Wave – bei dem Eno auch federführend seine Finger im Spiel gehabt hat. Den zickig-albernen Wave von Devo hat Eno auch produziert.
"Reflektor" von Arcade Fire ist jetzt also keine große Welterschütterung und die Zersetzung eines altbekannten Bandsounds, ist kein "Kid A" und kein "Yeezus". Anstelle des wahrlich Abenteuerlichen setzen Arcade Fire auf das Hippe. Eine Zusammenarbeit von Arcade Fire und James Murphy hätte vielleicht vor sechs Jahren als Sensation gelten dürfen. Arcade Fire haben bloß ein bisschen ihre Klamotten durchgelüftet, da einen proto-typischen LCD-Beat eingesetzt, dort eine aus Glas gebaute Synthie-Fläche eingewoben, ein bisschen unterkühlte Funkiness zugelassen. Es gibt auch komische Bläser und synthetische Steeldrums. Es gilt viele spannende Soundeinfälle zu entdecken.
Das alles ist sehr gut und mitunter großartig, und so versammelt "Reflektor" auch einige tatsächlich fantastische Songs: "Porno", "Afterlife" und "It's Never Over (Oh Orpheus)" beispielsweise, oder "Normal People", "Flashbulb Eyes" oder "Joan of Arc". Hätte man sich aber vor einem Jahr im Kopf ausgemalt, wie das denn klingen könnte, James Murphy und Arcade Fire, dann wäre ziemlich ganz genau dieses Album herausgekommen.
Natürlich sind Arcade Fire aber nicht bloß ein Klang-Design, an dem sich herumdoktern lässt. Sie sind eine Band, die wieder wunderbare Songs geschrieben hat, und Texte, über Leben, Tod und Jenseits. Murphy und Arcade Fire haben gemeinsam den Weg des interessanten Kompromisses gefunden.
Wenn "Reflektor" wieder ein paar Menschen mehr mit den Ideen von Elektronik und leiser Disco bekannt macht, ist das sehr begrüßenswert. Und vielleicht kann man sich von einer großen, großen Mainstream-Platte einer großen, großen Band, die nicht gerade Metallica, Red Hot Chili Peppers, Coldplay oder U2 heißt, nicht mehr viel mehr erwarten als das schöne Album, das "Reflektor" ist. Es sei hier außerdem vermerkt, dass mit "Reflektor" nun offiziell die Rehabilitierung von U2 ihren Anfang genommen hat.
Und der Song "Here Comes The Night Time"? Hier kommt alles bestens zusammen, auch weil es manchmal eben unperfekt klingt, hier wirken Arcade Fire zum ersten Mal ein bisschen locker. Locker in der Art und Weise wie ein 29-jähriger Student locker ist, der gerade das erste Mal in seinem Leben versucht, zu tanzen und dabei rhythmisch in die Hände zu klatschen. Der Song beginnt mit Straßengeräuschen und akustischem Karneval, es folgt ein kurzes, rasantes Durcheinander aus Getrommel, Gitarren-Verzerrung und Noise, wie es James Murphy beispielsweise schon an den Anfang seines ewigen Hits "Losing My Edge" gesetzt hat. Gleich darauf drosseln Arcade Fire unvermittelt das Tempo empfindlich, hier ist eine Band, die beim Rauchen erwischt worden ist.
Die Band gleitet weiter auf einem Calypso in Zeitlupe und einem Dub für Elektrotechniker. Das ganze Stück ist ungelenk, tollpatschig, auf verbogene Art und Weise sexy und lustig. Es gibt ein übertrieben putziges Klavier-Motiv, das später abzusaufen droht. Wenn Win Butler von der "Night Time" singt, meint er natürlich auch die Nacht des Lebens, des Schlafes blöden Bruder. Wir wollen diesen Song aber ebenso als Einladung in die Tanzbar und auf den Floor verstehen. Ganz sind wir noch nicht dort.
P.S.:
Dieses Stück ist zwar vom "Achtung Baby"-Nachfolger "Zooropa", mit dem sich U2 noch weiter in die Disco vorgewagt haben – but it's all there: LCD-Beat, Eno, Bono mit seiner besten Bowie-Impersonation. Könnte morgen auf DFA erscheinen. Fantastisch.