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Christian Lehner Berlin

Pop, Politik und das olle Leben

1. 11. 2013 - 16:08

Tanz auf dem Vulkan, Interview unter Palmen

Eine Woche lang zum Nachhören: unsere Artists Of The Week Arcade Fire im Frage-und-Antwortspiel zum neuen Album Reflektor.

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Das Schöne an der holden Kunst ist, dass sie oft mehr weiß als der Künstler. Oder einfach bereit ist, mehr zu offenbaren. Angesprochen auf das Offensichtliche, also auf das Nagen am Popstarstatus in den Songtexten, die dafür bemühten Fluchtmetaphern der antiken Orpheus und Eurydike-Sage, das Tauschen der Gitarren gegen Keyboards und Synths, den Albumtitel, sprich auf alles, was man an Selbstbespiegelung und Stilbrüchen auf dem neuen Arcade Fire Album Reflektor hören kann, antworten Sängerin Régine Chassagne und Drummer Jeremy Gara beim Interview in Miami im Defensivmodus. Neuausrichtung? "Auf keinen Fall!" (Chassange), "Vielleicht unterbewusst!" (Gara).

Arcade Fire in Miami

Christian Lehner

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Vielleicht hätte Co-Founder, Co-Stimme und Haupt-Songwriter Win Butler anders geantwortet. Aber vielleicht haben einfach auch nur die Düfte der mittlerweile in Schwung gekommenen Küche des haitianischen Tap-Tap-Restaurants das Blut in den Magen und den Unwillen in Fragen nach dem Existentiellen fahren lassen.

Warum das Interview in Miami stattfindet und nicht in New York, wo Arcade Fire die Woche davor zwei Mal als ihre eigene Fake-Band The Reflektors aufgetreten sind und der Verfasser dieser Zeilen nur schnell mal die U-Bahn nach Bushwick nehmen hätte müssen, hat viel mit dem Status zu tun, den das Indie-Rock-Kollektiv aus Montreal mittlerweile erreicht hat. Drei erfolgreiche Alben, ausverkaufte Welttourneen, Respektbekundungen von Größen wie David Bowie, David Byrne, U2 und dem Boss, mit The Suburbs vor zwei Jahren der Grammy-Gewinn für das beste Album und eine treue Fanbasis, die ein jahrelanges Weitermachen ermöglicht. Das alles hat Arcade Fire nicht nur ins Licht der schwerst angeschlagenen Musikindustrie geführt, sondern ihnen dort auch einen fixen Platz gesichert.

Das kann jetzt sehr frei aber auch sehr gefangen machen. Beim Interview-Marathon im Miami merkt man schnell, dass die Band ihre Rolle als Branchenschwergewicht noch immer nicht wirklich annehmen will. Der Organisationsaufwand ist enorm. Zahlreiche Kamerateams aus Europa und Lateinamerika haben das angemietete Restaurant in Beschlag genommen. Wie staunende Kinder beobachten Win und Co. den Aufbaurummel. Mit preußischer Disziplin peitscht die britische Abgesandte der Plattenfirma den Interview-Ablauf durch, immer einen Blick auf die Stoppuhr gerichtet. Wehe, es wird um eine Minute überzogen!

Reflektor

Arcade Fire

Im Kontrast dazu die zu fünft angetanzten Kanadier, die in zwei Gruppen aufgeteilt werden. Gruppe Win mit dem Feuerkopf Richard Reed Perry und dem bärigen Tim Kingsbury. Gruppe Régine mit Co-Speaker Jeremy Gara, der in unserem Gespräch mit selbstbewusstem Auftreten und eloquenten Sprachbeigaben eindrucksvoll untermauert, dass sich Arcade Fire als weitestgehend gleichberechtigtes Kollektiv verstehen und nicht bloß davon reden.

Pulsieren statt Überwältigen

Während wir aufbauen, macht sich Win im MTV-Latin-America-Interview über MTV lustig,"weil die ja keine Musik mehr spielen", beantwortet dann aber doch zuvorkommend und höflich die Fragen der etwas irritierten Journalistin. Zwischen den Interviews schlürft die Band Espressos und lässt sich auch auf den ein oder anderen Plausch mit dem Personal und den profesionellen FragestellerInnen ein. Der Hühne Win marschiert mit seinem sechs Monate alten Söhnchen im Arm vor dem Tap-Tap-Restaurant auf und ab und fragt unerkannt eine Gruppe von Kids, ob hier irgendwo ein Basketball-Court in der Nähe sei. Dann tauschen wir Jungpapas Informationen über erste Zähne und Ablenkungstechniken am Wickeltisch aus, ehe es wieder hinein geht in die Interviewmaschine.

Dieses praktizierte Understatement mag bei jenen Sympathiepunkte bringen, die ihre Indie-Helden gerne volksnah und "authentisch" haben. Bei einer Band, die jedoch längst die Sphären des musikalischen Kleinunternehmertums verlassen hat, funktioniert das Werken auf Augenhöhe mit den Fans oder dem eigenen Ethos häufig nicht mehr ganz so reibungslos. So gerieten die frühen Promo-Shows, die die Band als interaktiven Karneval mit den Fans konzipiert hatte, zu einer Preistreiberei duch Ticket-Scalpters. Für Eintrittskarten wurden in New York am Schwarzmarkt angeblich mehrere tausend Dollar geboten. Dass die wenigen Glücklichen dann per Anweisung des Managements dazu verpflichtet wurden, sich in Schale zu werfen oder kostümiert aufzutauchen, fanden dann auch viele Fans der Band nicht mehr ganz so lustig.

Hier tut sich ein Widerspruch auf, der die 76 Minuten Spiellänge des Doppelalbums zu einer spannenden und knisternden Angelegenheit macht. Arcade Fire sind jene "Normal People" geblieben, die sie im gleichnamigen Song gar nicht sein wollen, obwohl sie alles dafür tun, genau so rüberzukommen. "Spießerrock" hat jemand im Standard-Forum geschrieben und das Wesen dieser sich selbst als Family wahrnehmenden Truppe ganz gut getroffen.

Reflektor

Arcade Fire

Denn das muss man auch nicht unbedingt als Diss lesen. Im Gegenteil, das hat auch etwas Beruhigendes: Man muss als Popakteur nicht unnahbar, hyper-cool oder larger than life sein. Man kann auch als überzeugter Normalo fantastische Gedanken haben und außergewöhnliche Popmusik machen. Und was für ein heißer Tanz auf dem Vulkan Reflektor geworden ist. (Track-by-Track Review des Albums hier von Susi Ondrusova).

Regine Chassagne und Jeremy Gara im Gespräch über die Beziehung der Band zu Haiti, den Einfluss des dortigen Karnevals auf das neue Album, die Zusammenarbeit mit David Bowie und James Murphy und warum das Reflektieren auf Reflektor einem clash of cultures geschuldet ist.

FM4 Arcade Fire