Erstellt am: 8. 5. 2012 - 13:42 Uhr
Immer eine Handbreit Demokratie unter dem Kiel?
Piraten auf fm4.ORF.at
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Piraten müssen (weil sie praktisch immer danach gefragt werden) vor allem über eines reden: ihre Ideen zur Entscheidungsfindung. Das heißt dort "Liquid Democracy".
Damit wollen die Piraten mit einem systemimmanenten Problem unserer repräsentativen Demokratie aufräumen. In dieser kann das Wahlvolk alle paar Jahre zur Urne schreiten, wählt aus einer Liste von Parteien eine, der man dann für die nächsten paar hundert Tage die Stimme überträgt.
Rein rechnerisch vertritt eine österreichische Nationalratsabgeordnete jeweils rund 25.000 WählerInnen. Die haben Maria Musterfrau freilich gewählt, weil ihnen damals zum Beispiel der Bau eines Eisenbahntunnels besonders wichtig war. Dass die Parlamentarierin jetzt auch für sie entscheidet, ob Studiengebühren eingeführt werden sollen, wie hoch der Beitrag zur Krankenversicherung ist oder ob Homosexuelle heiraten dürfen, ist Teil des Spiels. Maria Musterfrau will natürlich irgendwann wiedergewählt werden, also wird sie schon drauf schauen, dass sie es sich mit ihren 25.000 WählerInnen nicht ganz verscherzt, aber grundsätzlich haben die zwischen den beiden Wahlen nichts mehr mitzureden.
Bei den Piraten soll das anders sein. Im Konzept der Liquid Democracy soll dieser Meinungskanal auch während der Amtszeit offenbleiben. Grundsätzlich behält "die Basis" ihre Stimme. Die kann man zwar an eine andere Person übertragen (die dann nach Gutdünken auch die auf sie übertragenen Stimmen weiter übertragen kann), man könnte diese Übertragung aber für einzelne Themen jederzeit rückgängig machen, selbst entscheiden oder jemand anderen damit betrauen. Also: Bei der Krankenversicherung will ich selbst entscheiden, den Tunnel überlass ich Maria Musterfrau und das mit den Homosexuellen und den Studiengebühren übernehme bitte mein guter Freund Kalle Svensson. Kommuniziert wird das natürlich alles online.
CC BY @hdready
Klingt irre kompliziert und mühsam, ist aber - wie alles - natürlich schon irgendwie machbar. In der Praxis haben freilich auch die Piraten selbst ihre Schwierigkeiten, vor allem wenn es darum geht, das eine System ins andere zu integrieren. Was es für einen einmal gewählten Abgeordneten (Stichwort: Freies Mandat) nämlich in der Praxis bedeutet, auf die möglicherweise von der eigenen Überzeugung abweichende Meinung der Basis reagieren zu müssen, ist da auch intern umstritten.
"Freiheit statt Angst"
Der Vision nach könnte jeder und jede immer über alles mitbestimmen. Fühlt er oder sie sich nicht kompetent, kann die Stimme abgegeben werden. Die Überschrift über allem lautet "Freiheit statt Angst", so Johannes Ponader, frisch gekürter "Politischer Geschäftsführer" der deutschen Piraten. Die werden dank ihrer Wahlerfolge gerade ins kalte Wasser geschmissen, und müssen ihre (von Bundesland zu Bundesland durchaus verschiedenen) praktischen Umsetzungen des Konzeptes erproben.
Tatsächlich hat das alles viel mit Angst und Vertrauen zu tun. Vertraue ich darauf, dass jemand anderer in meinem Sinn entscheidet (oder dass sie, falls sie etwas entscheidet, das mir nicht gefällt, zumindest einen guten Grund dafür hat)? Wie wichtig ist das Gefühl, dass ich meine einmal abgegebene Stimme theoretisch jederzeit mit einem Mausklick in Sekundenschnelle zurückziehen kann?
Funktioniert das überhaupt?
Natürlich. Weil alle Systeme "funktionieren". Monarchien, Diktaturen, Demokratien, ... sie funktionieren. Die Frage ist nicht die nach der Form, sondern die nach dem Ergebnis, der auftretenden "Nebenwirkungen", der Machtverteilung. Und so bürgernah sich die "Liquid Democracy"-Konzepte der Piraten auch geben: Die (im Sinn der eigenen Interessen erfolgreiche) Teilnahme bleibt davon abhängig, wie viel Zeit und sonstige Ressourcen (vom Internetzugang über die Beeinflussung anderer) ich aufwenden kann.
Dass diese Ressourcen im "Wahlvolk" alles andere als gleich verteilt sind, ignorieren die Piraten praktisch zur Gänze. Auch wenn sich nur wenige an einzelnen Diskussionen beteiligen würden, so ihr "Politischer Geschäftsführer", hätte sich gezeigt, dass das entstehende Stimmungsbild weitgehend der Meinung innerhalb der (unbeteiligten) Piraten entsprechen würde, oder das Thema den anderen eben nicht wichtig sei. Damit wird politische Entscheidungsfindung aber in letzter Konsequenz nichts anderes als eine permanente Reaktion auf (bestenfalls sehr gut gemachte) Meinungsumfragen zu einzelnen Fragestellungen.
Repräsentative Demokratie könnte bedeuten, nicht über einzelne Sachfragen abzustimmen, sondern Gesamtkonzepte zu wählen. Nicht ob ein Tunnel gebaut, die Krankenkassenbeiträge erhöht, Studiengebühren eingeführt werden und Homosexuelle heiraten dürfen, sondern ob sich eine Gesellschaft als Ganzes auf dieses oder jenes Ziel hin ausgerichtet. Repräsentative Demokratie könnte bedeuten, einzelne Entscheidungen aus einer großen Ideologie heraus abzuleiten.
Wenn unsere Abgeordneten aber genau das nicht tun und von Fall zu Fall nach Eigeninteressen oder zur persönlichen Gewinnmaximierung entscheiden, dann brauchen sie sich nicht zu wundern, dass wir das auch wollen. Was für mich selbst am schönsten ist, das weiß ich ohnehin am besten.
Ob sich die 12% der Bevölkerung, die in Österreich armutsgefährdet sind aber eher auf dem Weg der direkten Partizipation via Internet mit ihrem Wunsch nach einer Senkung der Krankenkassenbeiträge durchsetzen, oder weil sich das schlicht und einfach aus einer politischen Ideologie heraus ergibt? Man weiß es nicht.